Die Zuhörer erleben eine musikalische Pilgerreise
Musik
Die «musikalische Wallfahrt» der Choralschola «Linea et Harmonia» kommt an. Das hat auch mit der Interpretation zu tun.
Oberwil b. Zug – Die Choralschola «Linea et Harmonia» ist im Wesentlichen das Werk des aus Prag stammenden Luzerner Gastprofessors David Eben. Sie ermöglicht ihm, seine umfangreichen theoretischen Studien zum Thema «Mittelalterliche Musik» auch in der Schweiz in die Praxis umzusetzen. Die neun Mitwirkenden (vier Frauen und fünf Herren) übten den Notentext weitgehend selbstständig ein. In wenigen Proben gelangen der Aufbau eines in sich geschlossenen und überzeugenden Gesamtkonzepts und das Zusammenspiel mit dem Saxofonisten John Voiriol.
Jeder hatte einen Solo-Einsatz
Die mittelalterliche Notenschrift vermochte mit ihren Neumen den Verlauf einer Melodie nur sehr unvollkommen wiederzugeben, was einen grossen Spielraum für die Interpretation ergibt. Einiges davon konnte man auch im Konzert in der gut besetzten Kirche Bruder Klaus Oberwil erfahren. Im Gegensatz zu vielen anderen Chorleitern verstand man den gregorianischen Choral als gemischten Chor mit gleichwertiger Behandlung der Frauen- und Männerstimmen. Die einstimmig geschriebenen Choräle wurden überwiegend oktaviert gesungen. Die Vorsänger-Zeilen waren innerhalb der Gruppe verteilt, sodass alle Mitwirkenden zu kürzeren oder längeren solistischen Einsätzen kamen. Neben den unterschiedlichen Stimmcharakteren fiel auf, dass einige in den Choral auch dramatische Elemente brachten, offensichtlich mit Billigung des Dirigenten.
Ausgezeichnet gelang die Intonation; hier erntete man die Früchte chorischer und individueller Stimmschulung. Bei diesem präzisen Halten der Tonhöhe war es auch problemlos möglich, das Blasinstrument manchmal erst mitten in einem Stück einsetzen zu lassen ein Luxus, den sich die wenigsten Gesangsgruppen leisten können. Die rhythmische Exaktheit im Sinne späterer Epochen verlieh vielen Gesängen einen stark strophenartigen Charakter. Der manchmal auch selber mitsingende Dirigent suchte dies durch angemessene Bewegungen zu relativieren. Es bestand guter Augenkontakt, aber die Mitwirkenden waren bei den ungewohnten lateinischen und altfranzösischen Texten doch auf die Gedächtnishilfen angewiesen.
Spiel ohne gedruckte Noten
Gerade der durchwegs blattfrei spielende Saxofonist deutete durch seine Interpretationen an, wie die mehrstimmige Musik im Spätmittelalter entstanden sein könnte. Manchmal spielte er zum Gesang in Quint- oder Oktav-Parallelen, manchmal schmückte er die Melodie aus, manchmal verfremdete er sie, alles ohne gedruckte Noten.
Im zweiten Teil des Programms geschah Ähnliches auch innerhalb der Choralschola. Was tun, wenn ein Teil der Melodie für einzelne Stimmen zu hoch oder zu tief liegt? Was tun, wenn das technisch noch primitive Begleitinstrument nicht alle Töne der Melodie hervorbringen kann, aber dafür extreme Höhen erklimmt?
Noch die auf die Neumen folgende Quadratnotation schrieb praktisch keine Mehrstimmigkeit. Aber im 16. Jahrhundert war sie plötzlich einfach da, mit der Renaissance-Polyphonie in extremer Vielfalt. Nur wenige frühere Sammlungen hatten sie vorbereitet, wie der «Codex Callixtus» (Santiago de Compostela) und der «Llibre Vermeil» (Montserrrat, Katalonien), welche mit mehreren Werken im Programm vertreten waren. Im letzten Werk, «Luto carens et latere», erklang tatsächlich ein Septakkord auf die hohe siebente Stufe, wie er sonst vor der Romantik (fast 500 Jahre später!) kaum vorkommt.
Das erfreulich zahlreiche Publikum dankte für die «musikalische Wallfahrt» mit einem langen und herzlichen Applaus, der allerdings nicht mit einer Zugabe erwidert wurde. Er soll Ansporn sein, trotz der grossen räumlichen Distanz zwischen Choral-Schola-Gründer David Eben und den Mitwirkenden die Sache nicht einschlafen zu lassen. (Jürg Röthlisberger)