Augen für das versunkene Licht

Kunst & Baukultur

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Guido Baselgia sucht die Wahrheit in der Unschärfe und findet dabei Farben, 
mitten in der Dunkelheit.

  • Luftfarben No 10, Silsersee, 225° Südwest (Werk: Guido Baselgia)
    Luftfarben No 10, Silsersee, 225° Südwest (Werk: Guido Baselgia)

Zug – Dieser Text ist in der Oktoberausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln.

Draussen regnet es, und die Weinreben vor Guido Baselgias Arbeitsraum schimmern durchs milchige Glas, als wäre die Welt ein Aquarium. Die grossen runden Fenster wirken wie überdimensionierte Objektive, betongewordene Perspektiven, und es ist nicht erstaunlich, dass wir in fotografischen Kategorien zu denken anfangen, sobald wir es mit ihm zu tun haben. 
Baselgia hat 40 Jahre lang im Kanton Zug als Fotograf und Künstler gearbeitet und gelebt, seine Werke haben den Blick auf das werdende Zug mitgeprägt, aber bei weitem nicht nur das. Von kargen Bündner Bergpanoramen, Mondlandschaften aus Bolivien bis direkt in den Amazonas-Dschungel fängt und fing Baselgia in seinen Fotografien immer auch das Unsichtbare ein. Das ist auch heute noch so. 

Mit dem Meter auf Haussuche
Baselgia ist einer, der arbeiten muss. Hier kann er das, ohne das Haus zu verlassen. «Als wir vor dreizehn Jahren von Zug nach Malans gezogen sind, war das hier ausschlaggebend: Ich wollte an einem Ort wohnen, wo ich auch arbeiten konnte.» Also hatte er bei den Besichtigungen den Meter dabei – wichtiges Kriterium: Gibt es einen Raum, in den der Vergrösserungsapparat passt? Hier passt er: Das Fotolabor ist im hinteren Teil des Ateliers untergebracht: Hier lässt Baselgia seine Bilder im Grossformat zu neuer Realität werden, in minutiöser Handarbeit. Das Fotopapier wird hier in Metern gemessen, die Entwicklerflüssigkeit in Litern und die Entwicklungswannen haben die Grösse eines kleinen Segelboots. Das ist natürlich alles etwas übertrieben, aber gleichzeitig auch wahr – und nötig. Die Werke Baselgias brauchen Raum zum Wirken, und die seiner neuesten Arbeitsserie um so mehr: «Luftfarben» nennt Baselgia seine neusten Arbeiten, und sie fangen nichts weniger als den Himmel ein, aber nicht den sichtbaren, sondern den verborgenen. Den in der Dämmerung versunkenen Himmel. Die Farben, die nicht da sind, aber eben doch. Baselgias Luftfarben sind eine Suche nach dem Unsichtbaren, und so sind sie auch entstanden. Und ihre Farbigkeit, das tiefe Blau, das schon fast schwarz ist, das Leuchten, den Zauber, den verdanken sie ihrer Unsichtbarkeit. 

Begehbare Kamera
Entdeckt hat er sie in seiner Heimat: Der Pontresiner ist bei der Installation der Camera obscura auf dem Berninapass auf die verborgenen Farben gestossen. Im neu gebauten Strassenunterhaltsstützpunkt der Passstrasse richtete er zuoberst im Siloturm eine begehbare Camera obscura ein, in Zusammenarbeit mit den Architekten Bearth & Deplazers: In die Rotunde χ von über sieben Metern Durchmessen lenkt ein 20 Millimeter grosses Loch in der Wand das Aussenlicht der eisigen Bergwelt auf die panoramaweite Innenwand. Es ist das ursprünglichste Prinzip einer Kamera, entdeckt und genutzt womöglich schon von neolithischen Kulturen. Im vierten Jahrhundert v. Chr. in einem chinesischen Text wird es zum ersten Mal schriftlich erwähnt, ist immer wieder erfunden worden – eine sehr ursprüngliche menschliche Erfahrung: Ein Auge ausserhalb des eigenen Auges. «Man muss das erleben – zuerst mal sieht man in diesem stockdunklen Raum gar nichts. Dann gewöhnt sich das Auge nach wenigen Minuten langsam an die Dunkelheit und fängt an, Umrisse zu sehen – langsam taucht aus dem Nichts dieses Panorama auf.» 

Arbeit mit dem Lichtstoff
Baselgia wollte das Bild der Camera 0bscura fotografieren – und ist dabei auf Farben gestossen. «Unsere Augen sehen in dieser Dunkelheit nur Schwarz-Weiss, da die Sehzellen, die für Farbe zuständig sind, weniger sensitiv sind. Die Kamera hingegen sieht immer alles», sagt Baselgia. «Wenn die Belichtungszeit lange genug ist, wirkt das Panorama in der Camera obscura so farbig wie eine Postkarte.» Dieses Sichtbarwerden der verborgenen Farben hat Baselgia in Beschlag genommen, dieser eigentliche «Lichtstoff», wie er ihn nennt: «Da geht es nicht um Schärfe und Technik, sondern um das eigent­liche Element, das ursprüngliche Licht, den Lichtstoff, den ich in seiner Unschärfe einfangen und wiedergeben möchte.» Plötzlich war der Drang da, und eine Frage: Kann man in der Unschärfe die Wirklichkeit erkennen? Baselgia baute sich eine Camera obscura im Kleinformat, klein allerdings nur im Vergleich zu jener auf dem Berninapass: Es ist doch immerhin eine Box geworden für das Filmformat 8×10 Inch, die gerade so in den Rucksack passt. «Ich wollte ähnliche Situationen finden. Also habe ich Orte aufgesucht, in denen ich die Dämmerung fotografieren konnte», Orte, die er bereits gut kannte, «ich wusste, ich muss noch mal dahin.» Nach Norwegen an den 71. Breitengrad, um in der Polarnacht nach dem Licht zu suchen. 
 
Unverbesserlich und absolut überzeugt
Die Luftfarben sind eine Weiterentwicklung von Baselgias Schaffen, eine weitere Stufe in der Entdeckung der Welt. Von den kargen, klaren Landschaften, vom dichten Dschungel des Regenwaldes Ecuadors hin zu Reflexionen in der Luft. «Viele Menschen denken, ich sei doch ein eingefleischter, unverbesserlicher und absolut überzeugter Schwarz-Weiss-Fotograf», sagt Baselgia und lacht. «Aber ich habe schon immer gesagt: Ich arbeite auch mit Farben – für die Grautöne braucht es das ausgewogene Rot, Blau und Grün.» Baselgias Wechsel zur Farbe ist womöglich auffällig, der Wechsel von der Schärfe zur Unschärfe aber noch frappanter. Seine Schwarz-Weiss-Arbeiten machen eine Welt sichtbar, die es für das blosse Auge nicht gibt: voller Kontraste, feiner Zwischentöne zwischen Licht und keinem Licht, zwischen Schwarz und Weiss. Mit den «Luftfarben» unternimmt Baselgia etwas ganz Ähnliches, allerdings umgekehrt. 

Versunken in der Geschichte
Dieses Entdecken von Versunkenem hat in Baselgias Arbeit schon ganz früh ihren Platz eingenommen. Gerade für die aktuelle Ausstellung im Kunsthaus Zug ist er auf Arbeiten gestossen, die aus einer verschwundenen Zeit kommen: «Ich war kurz nach der Wende 1990 im Gebiet der heutigen Ukraine unterwegs, zusammen mit einem Freund. Damals war die Gesellschaft dort quasi noch im sowjetischen Urzustand. Wenn ich heute diese Bilder aus meiner Serie ‹Galizien› betrachte, so kommen mir meine eigenen Fotografien so versunken vor, wie mir das damalige Galizien dort erschien. Gerade heute, im Angesicht des Ukraine-Kriegs, erhalten diese Bilder eine neue Bedeutung.» 

Eine persönliche Wende
Eine Geschichtsschwere zieht die Bilder in die Vergangenheit, in Baselgias persönliche, aber auch in die historische. Die Wende war für Baselgia auch eine persönliche Wende. Damals wurde aus dem Reportagefotografen ein Kunstschaffender. «Ich konnte es nicht fassen und wollte diesen historischen Moment des Mauerfalls dokumentieren – doch für die Print-­Medien waren meine Bilder schon irrelevant geworden, bis ich sie entwickelt hatte, hatte das Fernsehen alles schon gezeigt. Da habe ich gemerkt, dass diese Art der schnellen Fotografie nicht meine ist. Ich möchte mit Zeit arbeiten, möchte meine Bilder entwickeln können, möchte dieses Handwerk erleben, das ist wichtig für mich.» Heute stehen die Werke dieser Serie im Kunsthaus im Kontext zu den neueren Arbeiten, lassen die Entstehung der folgenden Werke verständlich werden. Die Luftfarben kommen aus den Bündner Bergen, aus Norwegens Dämmerung und aus den Abendstunden am Atlantik zurück nach Zug, wo Baselgia sie mit seiner künstlerischen Vergangenheit verknüpft. Baselgia sagt: «Bei mir hat alles, was ich tue, etwas damit zu tun, was ich davor getan habe.» Die Reise geht weiter. 


(Text: Falco Meyer)