Der Stammbaum Jesu
Kunst & Baukultur
«Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart...» Den biblischen Hintergrund zu diesem populären Weihnachtslied hat ein bedeutender Künstler in Unterägeri wunderbar dargestellt.
Unterägeri – Von einer wahren Faszination ergriffen, betrachtet man das ungemein lebendige Glasfenster, das gütige Gesicht König Davids, das sich um ihn rankende, mit prächtigen Blüten bespickte Geäst, wie es sich verspielt zum Gestirn emporwindet. Das 0,95 mal 3,23 Meter grosse Fenster ist das Prunkstück der Hauskapelle im Altersheim Chlösterli in Unterägeri. Abgesehen von den Oblichtern ist es die einzige natürliche Lichtquelle im Raum. Geschaffen wurde das Kunstwerk von keinem Geringeren als dem bedeutenden Schweizer Glasmaler und Grafiker Max Hunziker (19011976). Die Baukommission der 1964 gegründeten Stiftung zur Errichtung des Altersheims Chlösterli war bei einer Exkursion an die Expo Lausanne von einer Fensterrose des Zürcher Künstlers so angetan, dass sie bei ihm ein Werk in Auftrag gab. Der Zuger Architekt Albert Müller, der für den 1967 eröffneten Bau des Altersheims verantwortlich zeichnete, sparte in der Hauskapelle den nötigen Raum für das Hunziker-Fenster aus.
Die Stiftung und der Künstler einigten sich auf das im Mittelalter sehr verbreitete, heute jedoch nicht mehr allzu bekannte Motiv der Wurzel Jesse, alternativ Jessebaum genannt. Kurz erklärt, handelt es sich dabei gemäss dem Buch Jesaja um den Stammbaum Jesu Christi. Jesse (auch: Isai) war der Vater König Davids, aus dessen Haus Maria, Jesu Mutter, stammte. In der biblischen Darstellung wird Jesse, also Isai, auf dem Erdreich liegend dargestellt. Seinem Körper, der hier Teil der Wurzel wird, entspringt der Reis(ig). Dieses Motivs bedient sich das Weihnachtslied «Es ist ein Reis (Ros) entsprungen ...». Bibelforscher Adolf Huber hat um 1970 eine aufschlussreiche Betrachtung des Hunziker-Fensters verfasst. So beschreibt er die rötlichen Garben im untersten Teil des Fensters als Basis für Brot, womit Hunziker einen direkten Bezug zum Zweck des Raumes geschaffen hat: eines Ortes des Gottesdienstes. Es gibt hier Wein und Brot. Den drei Wurzelsträngen entwächst der mehrfarbige Jessebaum, dessen Hauptstamm auf alle Seiten Zweige treibt, an deren Ende in unterschiedlichen Farben Amaryllis-artige Blüten prangen, 42 an der Zahl so viele Geschlechter nämlich liegen zwischen dem Stammvater Abraham und Jesus. Die oberste Blütengruppe wächst bereits ins himmlische Sternenfirmament. Mitten im Baum kniet der golden gekrönte König David, von gross gewachsener, schlanker Gestalt, Harfe spielend. Er ist die zentrale Gestalt des Glasgemäldes. Sein sanftes, schönes Gesicht mit ausdruckvollen dunklen Augen und rötlichem Kopfhaar und Bart deutet auf seine Weisheit als grosser Regent sowie auf seinen ausgeprägten Kunstsinn hin, den die Geschichtsschreibung überliefert hat. Nahezu etwas Göttliches hat Max Hunziker hier seinem König David verliehen. Das siebensaitige Instrument in seinen Händen ist in sattem Grün ausgeführt. Drei wehende Zierbänder in Rot, Weiss, Gelb und Blau bringen Bewegung in die Szene.
Über Davids Haupt hat der Künstler den Heiligen Geist als Taube abgebildet, die in Richtung Altar fliegt. Das Himmlische, Sphärische, das von Hunzikers Gemälde ausgeht, liegt nicht etwa im oben abschliessenden Himmelsgewölbe, sondern vielmehr im nur diffus wahrgenommenen, aber überaus effektvollen Hintergrund ein mit zartem Gewölk durchzogener hellblauer Himmel. Er hebt die unsichtbare, geheimnisvolle Anwesenheit Gottes in Hunzikers Kunstwerk zusätzlich hervor.
Das über 3 Meter hohe Glasfenster ist vierteilig. Max Hunziker hat nicht etwa wie nach herkömmlicher Art Glasscheiben bemalt, sondern transparente Platten aus Polystyrol, einem ab 1949 von BASF entwickelten Kunststoff, verwendet. Eine dessen vorteilhafter Eigenschaften ist die Reflexfreiheit. Die Platten werden durch simple Metallstäbe horizontal zusammengehalten. Max Hunzikers Schaffen wurde von seinen Auslandaufenthalten geprägt. Insbesondere in Frankreich, wo er 14 Jahre zubrachte, liess er sich vom Werk Cézannes, van Goghs oder Roualts leiten. Zurück in der Schweiz, widmete sich Hunziker vornehmlich der Glasmalerei. Die Arbeiten in den Kathedralen von Le Mans, Bourges oder Chartres wirkten sich nachhaltig auf seine Gestaltung aus. Mehrere Schweizer Kirchen rühmen sich eines Hunziker-Werkes, so auch die kleine Hauskapelle hinter der unauffälligen grauen Tür im Altersheim Chlösterli in Unterägeri. Hierbei handelt es sich aus Sicht des Autors um ein besonders einnehmendes Kunstwerk mit einer enormen überirdischen Ausstrahlung. (Andreas Faessler)
Hinweis
Mit «Hingeschaut!» gehen wir wöchentlich mehr oder weniger auffälligen Details mit kulturellem Hintergrund im Kanton Zug nach.