Durchatmen nach den Kriegsstrapazen

Film & Multimedia

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Die Historikerin Lea Moliterni hat ein fast vergessenes Kapitel der humanitären Geschichte in einem Film aufgearbeitet: 180000 Kinder fanden während und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz Erholung. Der Film wird demnächst in Zug gezeigt.

  • Ein ungarischer Knabe bei der Reise im Zug.
    Ein ungarischer Knabe bei der Reise im Zug.
  • Zugkinder in Adelboden.
    Zugkinder in Adelboden.
  • Ein Bahnwagen der SRK-Kinderhilfe.
    Ein Bahnwagen der SRK-Kinderhilfe.

Zug – Seit fast zwei Jahren schon ist Lea Moliterni mit ihrem Dokumentarfilm «Halt im Paradies – Erinnerungen von Rotkreuz-Zugkindern» unterwegs. Sie zeigt ihn im Rahmen von Veranstaltungen der verschiedenen Rotkreuz-Organisationen, in Altersheimen, bei Interessengruppen und an Unis. Und oft kommt es nach dem Film zu ähnlichen Szenen: Ältere Personen stehen auf und melden sich zu Wort: «Ich war auch ein Zugkind, aber ich hatte keine Ahnung, dass wir so viele waren.»

Zugkinder – den Begriff kreierte die Historikerin – meint jene kriegsversehrten Kinder, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit Rotkreuz-Kinderzügen zur Erholung in die Schweiz geholt wurden. Rund drei Monate blieben sie bei Pflegefamilien, die sie aufpäppelten. Insgesamt 180 000 Knaben und Mädchen zwischen 5 und 10 Jahren nahmen diese Reise zwischen 1942 und 1956 auf sich.

Lea Moliterni ist Historikerin und beim Roten Kreuz Kanton Zürich verantwortlich für Nachlass, Philanthropie und Historisches. Sie hat mit dem Film dieses fast vergessene Kapitel der humanitären Geschichte der Schweiz zum Thema gemacht. Fast überall gebe es noch Zeitzeugen, erzählt sie im Interview, «aber die wenigsten wissen voneinander. Viele denken, sie seien die einzigen gewesen.»

Moliterni hat mit dem Film etwas ins Rollen gebracht. Der Ursprung lag in einem Zeitungsbericht über eine Rotkreuz-Schwester, die ab 1947 solche Kinderzüge begleitete. Am Schluss platzierte die Historikerin im Blatt des Roten Kreuzes Zürich einen Aufruf «Zeitzeugen gesucht». «Damit habe ich etwas losgetreten, womit ich niemals gerechnet hätte», sagt sie. Es macht den Eindruck, als könne sie es heute immer noch nicht so ganz glauben. «Bereits am ersten Tag des Erscheinens der Broschüre erhielt ich vierzig Anrufe und hörte vierzig Lebensgeschichten.»

Geschichten, die noch nie erzählt wurden

Eigentlich wollte sie ein Buch zum Thema schreiben. Diese Zeitzeugen aber, ob nun ehemalige Betroffene oder Geschwister, sind hochbetagt. «Mir war klar, für ein Buch reicht die Zeit nicht mehr». Es reifte die Idee für einen Film. Zusammen mit dem Filmemacher Hans-Urs Bachmann arbeitete sie rund zwei Jahre daran, mitten in der Coronazeit. Eine Stiftung hat das Projekt finanziell unterstützt. Über 100 berührende Gespräche hat Moliterni geführt, vielen emotionalen Treffen beigewohnt.

Einige haben zum ersten Mal überhaupt darüber geredet. «Ehemalige Kriegskinder sagen mir, dass sie ihre Geschichte noch nie erzählt haben und es nachher auch nicht mehr werden.» Sie ist überzeugt: «Wenn man den Krieg nicht erlebt hat, kann man das nicht nachfühlen. Es brauchte diese humanitäre Intervention, um den Kindern Sicherheit zu geben.»

Eine erste Umarmung, satt sein und sorgenlos: Das erlebten viele Zugkinder während ihres dreimonatigen Aufenthalts in der Schweiz. «Viele ehemalige Zugkinder haben eine verklärte Sicht auf die Schweiz, sie sehen sie als Paradies», auch nach all den Jahren, so die Historikerin. Sie nennt es auch eine «Überlebensstrategie».

«Es ist ja nicht realistisch, dass es keine negativen Erlebnisse oder Erfahrungen gegeben hat, aber davon habe ich nichts gehört. Die Menschen haben das in der Retroperspektive tatsächlich also so paradiesisch erlebt.» Das fasziniere sie auch als Historikerin.

Die Kinder mussten einen Mangel aufweisen

Tatsache war, dass die Kinder die Erholung, das Durchatmen nach jahrelangen Kriegsstrapazen nötig hatten. Doch nicht alle konnten berücksichtigt werden. Es gab eine Auswahl: Die Kinder mussten zwischen 5 und 10 Jahre alt sein, einen Mangel aufweisen – etwa Unterernährung – und in prekären Verhältnissen leben. «Das traf auf etwa 95 Prozent aller Kinder in den Kriegsgebieten zu», weiss Moliterni. Die Kinder durften zudem nicht krank sein, etwa an Tuberkulose leiden oder psychisch auffällig sein.

In der Schweiz konnten sich gleichzeitig Familien melden, die ein Pflegekind aufnehmen wollten. Eine fast unglaubliche Zahl an Freiwilligen meldete sich. «Unsere Mutter sagte, wenn es Platz hat für acht am Tisch, dann auch für neun» oder «Wir dankten damit dem Herrgott, dass wir verschont geblieben sind», zitiert die Historikerin ehemalige Gastgeschwister.

Die Familien konnten im Vorfeld nicht überprüft werden, und es gibt keine Statistik, wer wohin geschickt wurde, erklärt Moliterni. «Das war damals logistisch unmöglich.» Sie weiss aber, dass der Kanton Zug ein beliebter Standort gewesen sei: Die Kinder konnten sich im ländlich geprägten Gebiet erholen, die Infrastruktur war dank der zentralen Stadt Zug und der guten Bahnverbindung gegeben.

Politische und historische Einordnung

Der Dokumentarfilm, der demnächst auch in Zug gezeigt wird, handelt von einem halben Dutzend Menschen, die als Kinder einige Zeit bei Gasteltern verbracht haben. Hauptprotagonist ist der emeritierte Germanistikprofessor Gerhard Sauder, der die Reise noch einmal unternimmt. Via Karlsruhe reist er nach Zürich, wo er damals von seinen Gasteltern empfangen wurde. «Er wollte diese Reise machen, auch für die Verarbeitung der Vergangenheit», sagt die Historikerin.

Bei den öffentlichen Vorführungen ist Lea Moliterni stets dabei. «Es ist schon interessant, dass ich immer noch regelmässig eingeladen werde, obwohl der Film öffentlich auf Youtube ist.» Bei solchen Filmen brauche es eine politische und historische Einordnung, ist sie überzeugt. Sogar bei Aufführungen an Unis werden in den anschliessenden Gesprächen kaum wissenschaftliche Fragen gestellt, sondern vor allem emotionale. Das Thema berührt – vielleicht auch, weil es kaum an Aktualität verloren hat.

Auch heute leben unzählige Kinder in Kriegsgebieten und erleben ähnliches, wie die Zugkinder. So komme ab und an nach einer Filmvorführung die Frage auf: «Würde eine solche Solidaritätsaktion auch heute noch klappen? Würden sich in der Schweiz 180 000 Gastfamilien finden, die kriegsversehrte Kinder aufnehmen?»

Hinweis

Sie kennen noch im Kanton Zug lebende ehemalige (Pflege-)Kin­der dieser Kinderzüge oder waren Sie selbst eines? Bitte melden Sie sich bei Agnes Ber­ther, leitung.freiwillige@srk-zug.ch oder Telefon 041 711 46 20. Der Dokumentarfilm «Halt im Paradies» wird am 28. September um 10.30 Uhr im Kino Seehof gezeigt. Es wird um eine Anmeldung gebeten: www.srk-zug.ch.


(Text: Carmen Rogenmoser)