Zuger Ladengeschäfte werden zu Ateliers

Kunst & Baukultur, Theater & Tanz, Vermittlung, Musik

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Einen Monat lang verlegen Kunstschaffende ihren Arbeitsplatz in diverse Detailhandelsgeschäfte. Das Stadtzuger Projekt «Tandem» wird heuer zum zweiten Mal durchgeführt, geht mit vielen neuen Erfahrungen einher – und generiert neues Publikum.

  • Patricia Jacomella Bonola (Bildmitte) kreiert in der Boutique Manuela aus recycelten Abfallmaterialien ein Hochzeitskleid.
    Patricia Jacomella Bonola (Bildmitte) kreiert in der Boutique Manuela aus recycelten Abfallmaterialien ein Hochzeitskleid.

Zug – Was derzeit im einen der Schaufenster des Optikergeschäftes Sträuli Brillen an der Zuger Bahnhofstrasse zu sehen ist, scheint aus dem Branchenkontext gerissen: An einem Tisch sitzt ein Herr und malt. Ihm gegenüber eine Dame. Auch sie ist konzentriert und geht einer gestalterischen Arbeit nach, hohe Akribie verlangt sie ihr sichtlich ab.

Ein Atelier bei einem Dienstleister für Sehhilfen? Es ist Teil eines schweizweit einzigartigen Projekts, initiiert von der Stadt Zug. Unter der Überschrift «Tandem – Kulturraum Zuger Innenstadt» werden Kunstschaffende und diverse Zuger Geschäfte zusammengebracht. Letztere bieten Ersteren einen Monat lang Platz zum Arbeiten – ein Geschäft wird folglich zugleich Atelier.

Wechselwirkungen vor Ort

«Tandem» ist 2023 zum ersten Mal durchgeführt worden – damals in Zuger Gastrobetrieben – mit so grosser Resonanz, dass es jetzt wiederholt wird; und zwar bewusst in Ladengeschäften. Das Projekt soll diesen wie auch der Kultur gleichermassen Chancen auf neues Publikum bieten. Vom Secondhandgeschäft über Schmuckateliers bis zur Schuhboutique ist ein breiter Branchenmix dabei – auch die Kunst präsentiert sich mit entsprechender Bandbreite. «Sowohl Detailhandel wie auch Kultur tragen zur Lebensqualität in der Stadt Zug bei», wird Stadtpräsident André Wicki in einer städtischen Mitteilung zum Projekt» zitiert. «Beides ist jedoch abhängig von einem lebendigen Standort und einem breiten Publikum. ‹Tandem› vereint all das.» Was in den temporären Ateliers entsteht, muss nicht zwingend mit der Branche des entsprechenden Geschäftes im Zusammenhang stehen. Doch viele der Kunstschaffenden suchen Bezüge oder lassen sich zumindest vom Geschehen vor Ort leiten. Verena Voser etwa pickt sich bei Sträuli Brillen, Begriffe und Worte aus Beratungsgesprächen heraus, die sie ganz zufällig mitbekommt, und verarbeitet sie in ihren Schöpfungen. Ihr Partner Peter Voser indes lässt sich auf den Moment ein und verarbeitet ihn und die Eindrücke, die er mit sich bringt – dies zweifach: einmal auf introvertierte und einmal auf extrovertierte Weise, wie er erklärt.

Der Bezug zur Geschäftsbranche ist bei Künstlerin Barbara Tresch-Stuppan etwas konkreter: In der Boutique Melbalu für italienische Damenschuhe an der Zeughausgasse geht sie der Beziehung zwischen Schuhwerk, Funktionalität und Identität auf den Grund und überträgt ihre Eindrücke und Erkenntnisse auf Linolplatten, die sie vor Ort auf Papier druckt und das Erzeugnis ins Schaufenster hängt. «Ich sehe es als eine Art ästhetische Übersetzung des Geschäfts», führt Barbara Tresch aus, «unter anderem dient mir das Produkt selbst als Inspiration, aber auch Interaktionen mit Kundinnen.»

Die Künstlerin selbst wie auch die Melbalu-Geschäftsinhaberin sind sich einig: Für ein solches Experiment, für eine solche Zusammenarbeit braucht es beiderseits Bereitschaft und Offenheit. Dies haben sämtliche teilnehmenden Tandems im Vorfeld untereinander abgeklärt und sich dann bei der Stadt beworben. Eine Jury hat schliesslich neun Einreichungen (siehe «Weiteres zum Projekt» am Ende des Textes) für das Projekt ausgewählt. Punktuelle Nachfragen vor Ort ergeben: Sowohl die Geschäftsverantwortlichen als auch die Kunstschaffenden nehmen viel für sich mit von diesem «belebenden», «spannenden» Projekt und werten es als bereichernde neue Erfahrung.

«Kultur braucht hybride Orte»

«Eine der Grundideen von Tandem ist es, den Kulturprozess sichtbar zu machen, Kultur braucht hybride Ort», sagt Iris Weder, Leiterin Abteilung Kultur. Auf der anderen Seite habe der Detailhandel in heutiger Zeit ganz allgemein einen schweren Stand, so berge das Projekt denn auch Synergien. Und die sind bereits bei der ersten Durchführung im vergangenen Jahr sichtbar geworden. «Es war wirklich überraschend, zu sehen, wie viel bei diesem Austausch passiert», so Iris Weder. «Und es brachte und bringt Menschen in Geschäfte, die da zuvor noch nie hingekommen sind.»

Erkennbar sind die neun teilnehmenden Geschäfte in der Stadt Zug an ihren violettfarbenen Plakatstelen vor der Eingangstür. Die «Untermieter» sind die meiste Zeit vor Ort, an den Mittwochnachmittagen und Samstagen arbeiten allesamt simultan. Im Verlauf des Juni finden vier geführte Rundgänge statt (siehe Hinweis), sie dauern jeweils eine Stunde, und es werden drei verschiedene Tandems besucht. Organisiert werden sie von der Baarer Kreativagentur Gäggeligääl GmbH, welche die Stadt bei der Durchführung des diesjährigen Projektes unterstützt. Und die Reise von «Tandem» wird weitergehen. Iris Weder: «Gäggeligääl wird das Projekt in den kommenden Jahren als Trägerschaft übernehmen.» (Text von Andreas Faessler)

 

Hinweis

Weiteres zum Projekt «Tandem»: www.stadtzug.ch/tandem. Termine für die Rundgänge: 12. Juni, 17 Uhr; 19. Juni, 14 Uhr; 22. Juni, 10 und 14 Uhr, Treffpunkt Postplatz Zug.