«Ich bin ein Zuger!»

Literatur & Gesellschaft

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Einer der grössten Erfolgsautoren der Nachkriegszeit lebte ein Vierteljahrhundert in Zug, verborgen und fast unerkannt. Just zur Feier seines 100. Geburtstags ist die erste Biografie über den toten Österreicher Johannes Mario Simmel erschienen.

  • Johannes Mario Simmel im Jahre 2008 in seiner Zuger Wohnung. Bild: Oliver Mark
    Johannes Mario Simmel im Jahre 2008 in seiner Zuger Wohnung. Bild: Oliver Mark
  • Simmels schlichtes Grab auf dem Friedhof St. Michael in Zug. Bild: Dorotea Bitterli
    Simmels schlichtes Grab auf dem Friedhof St. Michael in Zug. Bild: Dorotea Bitterli

Zug – Googelt man Johannes Mario Simmel, so erscheinen lauter Superlative: Der am 7. April 1924 in Wien geborene und am Neujahrstag 2009 in Luzern verstorbene österreichische Schriftsteller und Drehbuchautor schrieb seit 1949 alle zwei bis drei Jahre ausschliesslich Bestseller. Seine 35 in dreissig Sprachen übersetzten Romane erreichten eine Gesamtauflage von über 73 Millionen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es nahezu keinen deutschsprachigen Haushalt, auf dessen Bücherregal nicht «ein Simmel» stand.

Allein oder gemeinsam mit anderen Autoren verfasste Simmel 1950–1962 insgesamt 22 Drehbücher für Filme, die mit den berühmtesten Schauspielpersönlichkeiten seiner Zeit besetzt wurden, so 1951 «Es geschehen noch Wunder» mit Hildegard Knef, 1953 «Tagebuch einer Verliebten» mit Maria Schell, 1955 «Hotel Adlon» oder 1957 «Robinson soll nicht sterben» mit Romy Schneider und Horst Buchholz.

Mit seinem heute noch verlegten 700-Seiten-Spionageroman «Es muss nicht immer Kaviar sein» kam 1960 der weltweite Ruhm. Lange als Trivialliteratur abqualifiziert, erfuhr sein Werk jedoch erst 1987 mit dem Genforschungs-Thriller «Doch mit den Clowns kamen die Tränen» die ersten Feuilletonbesprechungen und damit literarische Adelung. Und dies, obwohl sich Simmels Romane unter dem unterhaltsamen Firnis mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen auseinandersetzten – etwa Gewalt gegen Ausländer, Drogenhandel, Genmanipulation oder Umweltprobleme.

Zuger Geschichten

Wer weiss heute noch, dass der weltberühmte Schriftsteller auf dem Zuger Friedhof St. Michael begraben ist? Die einfache Marmorstele mit der Inschrift «Lulu und Johannes Mario Simmel gest. 1985 / 2009» reiht sich unauffällig ein zwischen andere Grabsteine mit Innerschweizer Namen.

Ebenso unspektakulär und zurückgezogen lebte der mit dem Luxusleben der Côte d’Azur vertraute Kosmopolit ab 1983, nachdem er sich 59-jährig entschieden hatte, nach Zug zu ziehen. Zugs Presse hob dieses Ereignis indes hervor: «Es muss nicht immer Monaco sein: Simmel in Zug» titelten die «Luzerner Neuste Nachrichten» (16. 7. 1983). Mit allen Details wurde beschrieben, wie Simmel zu Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung kam, wie sein Gesuch von der Fremdenpolizei geprüft und für die Rubrik «Kultur» jeweils nur ein kleines Kontingent gewährt wurde. Simmels finanzielle Verhältnisse waren dabei nicht unwichtig.

Jahre später, kurz nach Simmels Tod 2009, sollte Andreas Iten in der «Süddeutschen Zeitung» eine sarkastische Kolumne verfassen, die sich auf diesen Zuzug bezog: «Johannes Mario Simmel war sehr willkommen. Die Kleinen – und der Kanton Zug ist flächenmässig der kleinste Kanton der Schweiz – fühlen sich aufgewertet, wenn weltberühmte Persönlichkeiten und reiche Leute Wohnsitz nehmen.» Der Autor zog «still und leise ins Städtchen», mietete zunächst am Bellevue-Weg eine 5-Zimmer-Terrassenwohnung mit Blick auf See und Alpen, wo er das fand, was er suchte – «die nötige Ruhe für sein Schreiben, Recherchieren und Nachdenken». Obwohl die meisten Zuger sich kaum um Literatur und Feuilletons kümmerten, «ging doch ein Raunen durch die Bevölkerung», so Iten, und auch notorische Nichtleser kauften fortan Simmels Romane vom Stapel neben den Kassen der Buchhandlungen.

Der Autor selbst gab über den Grund seines Wohnsitzwechsels bereitwillig Auskunft: Er lebte in Scheidung und wollte in Monte Carlo ausziehen. Die Schweiz kannte er von Buchvernissagen. Bei einem Zwischenhalt sei er in Zug am See spazieren gegangen: «Damals habe ich mich in diese Stadt verliebt» (LNN 16. 7. 1983). An Zug schätzte Simmel die kosmopolitische Offenheit: dass man am Bahnhofkiosk Zeitungen aus aller Welt kaufen, in den Läden internationale Videos in Originalversion finden und in einer Dreiviertelstunde am Flughafen sein konnte.

Aber er hielt sich fern vom gesellschaftlichen Leben. Gemäss Christoph Balmer konnte ihn das Buchhaus Balmer nur ein einziges Mal für eine Signierung gewinnen, und zwar für den Roman «Die im Dunkeln sieht man nicht» (1985). Vor diesem Anlass hatte Simmel im «Luzerner Tagblatt» sein Verhältnis zu Zug beschrieben. Bezug nehmend auf den berühmten Ausspruch J. F. Kennedys «Ich bin ein Berliner», notierte er: «In grösster Bescheidenheit sage ich leise, ganz leise vor mich hin: Ich bin ein Zuger!» (LZ 12. 6. 1985).

Nach dem Tod seiner Lebensgefährtin Lucie 1985 lebte Simmel am Bohlgutsch allein, inmitten einer riesigen Bibliothek – schreibend, lesend, denkend.

Am 11. September 2013 liess Journalist Wolfgang Holz für «Zug Kultur» Adrian Hürlimann, den Präsidenten der Literarischen Gesellschaft Zug, rückblickend zu Wort kommen: Simmel sei «eigentlich ein offener Typ» gewesen, der immer die gleichen Geschichten erzählt habe. Dass er aus nichts Schriftsteller geworden sei. Dass er nur ein Kännchen Pfefferminztee zum Arbeiten brauche. Dass er von seiner Wohnung aus Sichtkontakt zum Alten Kantonsspital habe, wo seine Frau behandelt wurde. Oder dass er nachts mit Marlene Dietrich telefoniert habe, die genauso einsam war wie er.

Und dann geht es noch um den «Stadtbeobachter»: Hürlimann habe sich einmal als «Ghostwriter» von Simmel verdingen dürfen. Die Hintergründe dazu kennt bestens Jürg Scheuzger, Germanist und heute pensionierter, lange auch kulturpolitisch aktiver Deutschlehrer an der Kanti Zug.

Die sogenannte Stadtbeobachter-Affäre

1991 führte die Zuger Regierung die in den 1980er-Jahren in Deutschland etablierte Tradition des Stadtschreibers ein, nannte sie «Stadtbeobachter» und dotierte sie mit jährlichen 90 000 Franken. Drei Jahre später schritt die gerade erstarkte SVP gegen den Kreditantrag für weitere vier Jahre ein und erwirkte eine Volksabstimmung. Obwohl sich die gesamte Zuger Kulturprominenz zu einem Pro-Komitee formierte, verlor sie die Abstimmung. Simmel mischte sich in die politische Diskussion ein. Er liess Hürlimann in seinem Namen einen Text verfassen, der in den Zeitungen publiziert wurde (24. 11. 1993). «Er hat zu mir gesagt: ‹Schreiben Sie, was Sie wollen›», so Hürlimann, «beim Korrekturlesen hat er dann lediglich den Akkusativ verbessert.» In den deutschen Medien verursachte die Abschaffung des «Stadt­beobachters» grossen Aufruhr. In Zug selbst schufen die unterlegenen literarischen Kreise in Rekordzeit ein Nachfolgeprojekt, das «Zuger Übersetzer-Stipendium», das – mehrheitlich durch Stadt und Kanton gesponsert – bis heute aktiv ist.

«Meister der rasenden Schreibmaschine» nannte Spiegel-Reporter Fritz Rum­ler 1987 den produktiven Simmel. Die Wurzeln zu diesem obsessiven Schreiben sind wohl in der frühen Jugend zu suchen. Diese Zeit vor allem hellt nun eine soeben erschienene Simmel-Biografie auf.

Arbeitswut wegen «Überlebensschuld»

Die Schweizer Kommunikationsberaterin und Autorin Claudia Graf-Grossmann sah vor drei Jahren eine Verfilmung von «Es muss nicht immer Kaviar sein», war begeistert und entdeckte, dass es noch keine Biografie gab. Sie begann zu recherchieren – im familiären Umfeld des Autors, in einschlägigen Archiven, im Internet und in Gesprächen mit Journalisten. Und förderte erstaunliche Details über Simmels Jugend zutage: Vater Walter Simmel musste, als das Dritte Reich Österreich annektierte, als Jude und Sozialist nach Grossbritannien fliehen. Mutter Lisa war gezwungen, sich und ihre beiden Kinder allein durchzubringen. Eines der berührendsten Dokumente ist sicher die von Graf entdeckte «Vaterschaftsklage» von 1944, in der Frau Simmel vor deutschen Gerichten erklärte, ihre Kinder seien Frucht eines Seitensprungs; wie viele Frauen damals benutzte sie dieses Argument, um – sich selbst erniedrigend – ihre «halbjüdischen» Kinder vor Verfolgung zu schützen.

Dem Holocaust entkommen zu sein, während die gesamte väterliche Seite in deutschen KZ ermordet wurde, muss Simmel als eine Art «Überlebensschuld» verfolgt haben, so wird vermutet, und eventuell hänge diese Grundverfassung mit seiner Arbeitswut zusammen. Zeitlebens warnte er vor dem Wiederaufflackern des Faschismus.

Simmel, ein Trivialautor?

Johannes Mario Simmel sagte von sich: «Ich habe noch nie einen Roman geschrieben. Ich habe immer nach wahren Begebenheiten geschrieben» (LZ 12. 6. 1985). Für jedes Buch recherchierte er mindestens ein halbes Jahr. Die historische Authentizität als Kern seiner Erzählungen war zentral; darum herum baute er eine unterhaltsame «Verpackung» – Liebes-, Luxus- und Spionagegeschichten. Die Kolportage habe sich indes öfters verselbstständigt, urteilt Germanist Scheuzger.

Graf-Grossmann ist der Ansicht, Simmel hätte «auf unerreichte Weise» einen «Riecher für kommende Themen» gehabt; wenn das Buch zwei Jahre später erschien, sei das Zeitthema «am Explodieren» gewesen. Als «Chronist der laufenden Ereignisse» habe er sich auch der Anti-Themen angenommen und sie in eine existenzialistische Gesamtschau zwischen Gut und Böse gestellt. Er verstand sich als Aufklärer: Wer Wissen hat, verhält sich vielleicht anders – besser? Auf Simmel trifft zu, was im angelsächsischen Raum gilt: Sein Werk kennt keine Spaltung in E- und U-Literatur. «It’s a good story, or it’s not.» Ein grossartiger Geschichtenerzähler war er allemal. (Text von Dorotea Bitterli)


Hinweis

Zug feiert «100 Jahre Johannes Mario Simmel» am Sonntag, 28. April, um 10.30 bis 13.50 Uhr im Kino Seehof 1, Schmidgasse 8, Zug. Vorgesehen sind die Buchvernissage der Simmel-Biografie «Mich wundert, dass ich so fröhlich bin» von Claudia Graf-Grossmann, eine Podiumsdiskussion mit ihr, der Autorin Anne Rüffer, und Filmemacher Xavier Koller, und schliesslich die Vorführung der Simmel-Verfilmung «Es muss nicht immer Kaviar sein». Infos auf www.zugkultur.ch.