Dicke kämpfen um Respekt

Letteratura & società

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Die Bibliothek Zug lädt im Rahmen ihrer Veranstaltung «Living Library» fünf Menschen ein, die über ihre besondere Geschichte berichten. Darunter ist die Fettaktivistin Melanie Dellenbach aus Bern.

  • Melanie Dellenbach ist Präsidentin des Vereins Body Respect Schweiz und betreibt einen eignen Modeblog. (Bild Marco Zanoni / PD)
    Melanie Dellenbach ist Präsidentin des Vereins Body Respect Schweiz und betreibt einen eignen Modeblog. (Bild Marco Zanoni / PD)

Zugo – Wenn Melanie Dellenbach im öffentlichen Verkehr unterwegs ist, wird sie oft angefeindet und respektlos behandelt. «Manchmal sind es abschätzige Blicke und Getuschel, manchmal auch ganz direkte, verbale Angriffe», berichtet die 38-Jährige aus Bern. Der Grund: Sie ist dick. Das weiss sie selbst, ohne dass man sie ständig darauf hinweisen müsste, und es ist in Ordnung für sie. «Menschen wie ich werden in vielen Lebensbereichen diskriminiert. Wir lernen von klein auf, dass wir uns ändern müssen, dass wir nicht richtig sind, so wie wir sind», erklärt die gelernte Pflegefachfrau mit Weiterbildung in Gesundheitsförderung und Prävention. Das werde verinnerlicht und habe fatale Folgen für die psychische Entwicklung der Menschen.

Deshalb hat sie gemeinsam mit Gleichgesinnten vor eineinhalb Jahren den Verein Body Respect Schweiz gegründet, den sie präsidiert. Der Verein organisiert Treffen und Bildungsabende, leistet Beratungs-, Öffentlichkeits- und Vernetzungsarbeit. An der Veranstaltung Living Library vom 24. September in der Bibliothek Zug wird sie über ihre Erfahrungen und den Kampf um Respekt sprechen. Dies ist ein Projekt des Kantonalen Sozialamtes und der Bibliothek Zug.

Ziel ist die soziale und rechtliche Gleichstellung

Den Ausdruck Fettaktivistin hört Melanie Dellenbach häufig. «Der Begriff ist vor allem bei den Medien beliebt. Er kommt aus den USA, wo es die Fettakzeptanz-Bewegung schon seit 50 Jahren gibt», erklärt sie. Selbst bezeichnet sie sich lieber als Körperrespekt-Aktivistin. «Es geht uns um die soziale und rechtliche Gleichstellung dicker Menschen.» Das Adjektiv dick empfindet die Mutter eines neunjährigen Mädchens nicht als abwertend. «Auch mehrgewichtig oder hochgewichtig sind keine verletzenden Begriffe. Ich vermeide jedoch den Ausdruck übergewichtig, weil dieser impliziert, dass jemand über beziehungsweise ausserhalb der Norm ist.»

«Viele hochgewichtige Menschen probieren eine Diät nach der anderen aus, meist jedoch ohne langfristigen Erfolg.» Ein Teufelskreis, der oft eine Essstörung, Rückzug und Depressionen nach sich ziehe. «Studien belegen, dass Diäten für die meisten Menschen nicht funktionieren. Eher im Gegenteil, am Ende ist man oft schwerer als zuvor», so Dellenbach. Sie kennt diesen «Jo-Jo-Effekt» aus eigener Erfahrung. «Ich war immer dick, und nichts, was ich ich ausprobierte, half langfristig.» Mitte zwanzig erlebte die junge Frau einen psychischen Tiefpunkt. «Ich habe dann an einem psychologischen Coaching teilgenommen, bei dem ich lernte hinzuschauen, wer ich eigentlich bin.»Sie habe wieder begonnen, regelmässig zu essen, und sei nicht mehr aus einem Pflichtgefühl heraus ins Fitnesstraining gegangen, sondern habe Sportarten gesucht, die ihr persönlich Spass gemacht hätten. «Ich dachte nicht mehr: Ich muss dünner werden, damit mein Leben startet, sondern begann, einfach zu leben. Dick und glücklich.»

Dabei entdeckte sie ihre Affinität zur Modewelt und startete ihren eigenen Modeblog. Sie lernte andere dicke Menschen kennen und erkannte, in wie vielen Lebensbereichen Gewichtsdiskriminierung verbreitet ist und dass sie dagegen vorgehen wollte. «Jugendliche finden teilweise keine Lehrstelle oder Erwachsene keinen Arbeitsplatz aufgrund ihres Gewichts.»

Ärzte nehmen Beschwerden nicht ernst

Viele würden sich schämen, ins Schwimmbad oder ins Fitnesscenter zu gehen, weil sie dort ständigen entwürdigenden Bemerkungen und Anfeindungen ausgesetzt seien. «Unbeschwert in der Öffentlichkeit eine Glace zu essen, ohne Hänseleien, ist für uns kaum möglich.» Der Verein Body Respect Schweiz werde oft angefragt, ob er Ärzte vermitteln könne, welche dicke Menschen respektvoll behandelten. Es komme nämlich vor, dass diese nicht nur abschätzig behandelt, sondern ihre Beschwerden nicht ernst genommen würden. «Dann heisst es: Nehmen sie erst mal ab, dann sprechen wir uns wieder.»

Notwendige medizinische Untersuchungen würden ihnen dadurch verwehrt oder sie würden unnötig verschleppt. «Es hat aber nicht jede Krankheit notwendigerweise mit dem Gewicht zu tun.» Leider seien jedoch auch dem Verein kaum Ärztinnen und Ärzte bekannt, welche dicke Menschen vorurteilsfrei behandeln würden. Die Gründe für Hochgewicht seien vielfältig. «Man unterscheidet über 100 Faktoren, die das Gewicht beeinflussen.» Darunter sind Umwelteinflüsse, die Genetik, der Hormonhaushalt, aber auch soziale Aspekte. «Gesundes Essen muss man sich leisten können, und man braucht die nötige Zeit, um es zuzubereiten.» Auch sportliche Aktivitäten wie Ausflüge in die Berge seien teuer, das könne sich nicht jede Familie leisten.

Melanie Dellenbach ist davon überzeugt, dass dicke Menschen sich viel wohler fühlen würden und infolge dessen auch gesünder wären, wenn die Gesellschaft ihnen wertfrei begegnen und sie akzeptieren würde, wie sie sind. «Diskriminierung, Mobbing und Hänseleien bedeuten Stress. Dieser hat Auswirkungen auf Blutdruck und Hormonhaushalt.» Was man an gesundheitlichen Problemen dem Gewicht zuschreibe, könne ebenso gut eine Folge der Diskriminierung sein.

Melanie Dellenbach fühlt sich wohl in ihrem Körper. «Natürlich nicht immer. Wenn ich schlecht geschlafen habe oder mich etwas bedrückt, bin ich wie jede andere schlecht drauf.» Aber wenn sie ausgeruht sei, sich hübsch zurechtgemacht habe und schöne Kleider trage, fühle sie sich wunderbar.

«Es ist doch schön, dass wir nicht alle gleich aussehen. Dicksein ist Teil der Vielfalt. Diversität ist nicht nur in der Natur wünschenswert», stellt sie klar. Wenn die Menschen anderen vorurteilsfrei und mit Respekt begegnen würden, wären alle glücklicher und gesünder. «Ich will, dass andere dicke Kinder und Jugendliche in einer Kultur des Körperrespekts aufwachsen können und dass sie sich nicht ändern müssen, um geliebt zu werden.» (Text von Cornelia Bisch)

Hinweis
Die kostenlose Veranstaltung «Living Library» findet am 24. September in der Bibliothek Zug statt. Eingeladen sind ein Flüchtling, eine Fettaktivistin, ein Blinder, eine Polyamouröse und ein Roma. Gesprächsbeginn ist jeweils um 13.30, 14.10, 14.50 und 15.30 Uhr. Reservation und Gesprächszeit mit der gewünschten Person unter bibliothek@stadtzug.ch.