«Es geht in Richtung Spitzensport»

Theater & Tanz, Musik

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Mal ist Lucca Kleimann Nazi, mal Dragqueen, mal ein Bäcker. Der Musicaldarsteller erzählt, weshalb Musicals einem Zehnkampf gleichen. Und verrät, warum er Slackline-Fähigkeiten in seinem Portfolio hat.

  • In der Musicalrevue «Berlin Berlin» spielte Lucca Kleimann bereits öfter den frechen Jungen Kutte.Bild: zvg
    In der Musicalrevue «Berlin Berlin» spielte Lucca Kleimann bereits öfter den frechen Jungen Kutte.Bild: zvg

Zug – «Das ist obszön und unvölkisch!» Der Ruf zerreisst die Stille im Saal. Ein junger Mann springt aus dem Publikum auf – hellbraunes Hemd, zurückgegelte Haare, Springerstiefel. Betretenes Schweigen. Dann die ersten Zwischenrufe: «Nazis raus!»

Erst als er die Bühne betritt und das Mikrofon eingeschaltet wird, merken alle: Er gehört zur Show. Lucca Kleimann ist schon oft in die Rolle dieses Nazis geschlüpft. Ebenso in die der flamboyanten Dragqueen, die über die operierte Nase Marlene Dietrichs lästert. Oder in die des kleinen, frechen Kutte, der im Berliner Admiralspalast – dem thematischen Schauplatz des Musicals – in die Lehre geht, um das Clubleben zu verstehen. Kleimann ist Musicaldarsteller. Sein Weg dorthin hat nicht in Berlin oder Paris begonnen, sondern im Liebfrauenhof in Zug.

Der Zuger, der inzwischen in Zürich wohnt, nahm zwar bereits in Kindesjahren Klavierunterricht, später sang er im Schulchor. Doch eigentlich wollte er Soziale Arbeit studieren. Um sich für das Studium zu qualifizieren, suchte er eine Praktikumsstelle – und landete in der Musicalschule VoiceSteps in Cham. «Ich wollte dort in der Administration arbeiten», sagt der 30-Jährige. «Aber die Bedingung war, dass ich auch auf der Bühne mitspiele.»

Was als pragmatische Entscheidung begann, wurde zum Wendepunkt. Plötzlich stand er auf der Bühne – singend, tanzend, spielend. Diese Zeit machte Eindruck auf den damaligen Maturanden. «Es machte mir viel mehr Spass, zusammenhängende Geschichten vorzusingen als einzelne Stücke.» Also änderte er seinen Plan und liess sich in Wien zum Musicaldarsteller ausbilden. Ganz fremd war ihm das Künstlerleben nicht. Sein Vater hatte früher Tanzmusik gemacht, spielte in Clubs und tourte durch die Schweiz. Der Rückhalt der Familie half. «Andere Eltern hätten vielleicht gezögert, ihr Kind in eine unsichere Bühnenkarriere ziehen zu lassen. Meine haben mich glücklicherweise immer unterstützt.»

Zehnkampf der Kulturbranche

Wie unsicher sein Weg werden würde, merkte er direkt nach Abschluss seines Studiums im Jahr 2020. Eigentlich hatte er ein sicheres Engagement, eine Uraufführung in Linz. Doch dann kam die Pandemie. Theater schlossen, Produktionen wurden gestoppt. Stattdessen bekam er eine grössere Rolle im Musical «Space Dream» in Zürich. Wochenlang probten sie – unter strengsten Auflagen. Ständige Tests, Singen nur mit Maske. Auftreten durften sie wegen des Lockdowns dennoch nicht.

Plötzlich war Kleimann sechs Monate lang ohne Rolle. Ein Moment, der ihm zeigte, wie fragil die Branche ist. Also liess er sich zum Gesangslehrer ausbilden. Und gibt seither unter anderem Gesangsunterricht an der Musicalschule VoiceSteps in Cham. «In diesem Metier ist ein zweites Standbein wichtig», sagt er.

Das zeigt auch ein Blick auf sein Schauspielprofil. Während Linkedin-Nutzer ihre Leadership-Skills und Marketing-Expertise in Szene setzen, listet Kleimann dort Tennis, Tischtennis und Slackline als besondere Fähigkeiten auf. «Das kann für Werbe- oder Filmprojekte nützlich sein.»

Hat er jedoch ein Engagement, dann richtig. Sechs Tage die Woche, manchmal neun Shows pro Woche. Montag ist Reisetag, denn «Berlin Berlin» tourt. Von Leipzig geht es nach Zürich. Busfahrt, Hotel, Theater. Lichtcheck. Soundcheck. Bühne. «Ich glaube, was Musicaldarsteller leisten, geht in Richtung Spitzensport.» Es ist ein permanentes Abrufen von Höchstleistungen, oft mit wenig Schlaf und ständig wechselnden Bühnen. Doch nicht nur das macht es anspruchsvoll: «Musicaldarsteller sind wie Zehnkämpfer. Sie müssen in mehreren Disziplinen stark sein – oft gleichzeitig.»

Tiefgang statt Kitsch

Der Zuger möchte mit einem Vorurteil aufräumen. «Musicals gelten vielen als leichte Kost, bunte Kulissen, einfache Geschichten, ein bisschen Gesang und Tanz.» Stücke wie «Berlin Berlin» zeigen jedoch, wie das Genre politische und gesellschaftliche Themen aufgreifen kann. Die Revue beginnt ausgelassen, doch mit Erstarken des Nationalsozialismus kippt die Atmosphäre. Die Figuren verlieren ihre Freiheit. Das Publikum wird mit dem Zerfall der Weimarer Republik konfrontiert. «Gerade heute werden faschistische Tendenzen immer salonfähiger. Wenn die Leute durch das Stück animiert sind, hinzusehen, haben wir etwas erreicht.»

Trotz der 20 bis 40 Castings pro Jahr, an denen der Zuger schon mal auffällige Socken trägt, um aus der Masse hervorzustechen: Lucca Kleimann hat seine Berufung gefunden. Er kann sich nicht vorstellen, irgendwann die Scheinwerfer gegen einen Bürotisch einzutauschen. Dafür nimmt er Unsicherheit in Kauf. «Wenn ich Arbeit habe, liebe ich diesen Beruf.»

 

(Text: Felix Ertle)