Bravour mit grossen und kleinen Händen

Musik

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«Eine Studie in Préludes» lautete der Titel des Konzertabends, den die Musikmäzenin Sabina Keresztes für die junge Klaviervirtuosin Claire Huangci in der Aegerihalle organisiert hatte: Rachmaninoff und Chopin ineinander verschränkt.

  • Claire Huangci meistert selbst «rachmaninoffsche» Akkorde. (Bild Matthias Jurt)
    Claire Huangci meistert selbst «rachmaninoffsche» Akkorde. (Bild Matthias Jurt)

Unterägeri – Für das Konzert mit Claire Huangci, der 9. Veranstaltung der Konzertreihe «Aegeri Concerts», war eine Gegenüberstellung der «Préludes» von Frédéric Chopin und Sergej Rachmaninoff angekündigt. «Es handelt sich um zwei der grössten Komponisten für Klavier», so begrüsste Veranstalterin Sabina Keresztes das Publikum im fast vollen Saal der Aegerihalle.

Chopin (1810–1849) und Rachmaninoff (1874–1943) sind beide Vertreter der europäischen Romantik, verarbeiteten in ihren Werken volksmusikalische Motive ihrer Herkunftsländer und waren selbst virtuose Spieler. Beide erweiterten die technischen und klanglichen Möglichkeiten des Klaviers und machten es zu einem «Seeleninstrument» par excellence, das jede Stimmung einfangen konnte – in Mensch und Natur. Beide zusammen aufzuführen, verhiess intensivste Pianistik, spieltechnisch und emotional.

Vom Präludium zu den Préludes

«Die Urquelle für die Form des Präludiums war Bach», so Keresztes weiter. Zu Bachs Zeiten galt das Präludium noch als Vorspiel; im «Wohltemperierten Klavier» (1742) wurden 24 Präludien zusammen mit je einer Fuge zu einem Zyklus entlang der klassischen 24 Dur- und Moll-Tonarten ausgearbeitet. Daran knüpfte Chopin 1835–39 mit seinen «24 Préludes op. 28» an, die als stilbildendes und epochales Gipfelwerk seines Schaffens gelten. «Prélude» meinte nun ein für sich stehendes, kurzes, auf eine bestimmte Tonart und Stimmung fokussiertes Stück. Typisch romantisch dabei: die Sensibilität für flüchtige, aber heftige Gefühlsmomente.

In dieser Traditionslinie stehen auch Rachmaninoffs «Préludes», die in drei Schüben entstanden sind: 1892 die berühmte cis-Moll-Prélude aus op.3 (1892), 1901–03 die «10 Préludes op.23» und 1910 die «13 Préludes op.32. Blickt man einmal in die Partituren, fällt einem schon aufgrund des Notenbilds die Eigenheit der Rachmaninoff-Préludes auf: Satztechnisch noch komplizierter, musikalisch noch anspruchsvoller, müssen von den Spielenden Akkorde bewältigt werden, die in beiden Händen viele gleichzeitige Töne und riesige Spannweiten verlangen – polyphon und wuchtig. Man sagt, Rachmaninoff selbst habe extrem grosse Hände mit gigantischer Fingerdehnung gehabt, die bis zu 13 Tasten überspannen konnten. Wie aber würde eine zierliche Pianistin wie Claire Huangci das spielen? Die Biografie der US-stämmigen, heute in Deutschland lebenden Virtuosin, die bereits mit 9 Jahren konzertierte, versprach technischen Höchstanspruch.

Und doch hatte sie auf das Programmblatt drucken lassen: «Es ist mir ein besonderes Anliegen, Musik zu machen, an die man sich erinnert, nicht weil ich so schnelle Finger hatte, sondern weil sie so berührend war» – und moderierte selbst ihr Spiel auch so: einfach und nahbar zwischen Mikrofon und Tasten, als Mittlerin zwischen grossartiger Technik und dem, worum es ihr wirklich ging: Gefühle.

«Die schönste Melodie»

Nachdem der junge Klarinettist Kirill Volynskiy der Musikschule Ägeri mit «Adagio und Tarantella» von Ernesto Cavallini eine Art Prolog dargeboten hatte, überraschte Huangci das Publikum zunächst mit einer Programmänderung und schilderte, warum sie das Konzert mit einer «Schubert-Rarität» aus dessen letzten Lebensjahr (Klavierstücke D946 Nr. 1-3) beginnen lassen wollte. Darin käme «eine der schönsten Melodien» vor, die sie kenne, und überhaupt sei Schubert eine ihrer ersten Lieben. Und indem sie zu spielen begann, einerseits kantabil-innig, andrerseits Abgründe erahnend, begriff man, was mit «berühren» gemeint war.

In die aufgebaute Spannung fielen dann die 15 Chopin- und 9 Rachmaninoff-Préludes, gespielt während 50 Minuten ohne Pause, als ein Erlebnis mit ungeheurer Sogwirkung. Technische Schwierigkeiten waren auch für kleine Hände nicht mehr hörbar. Es ging um musikalische Vokabeln für mit Worten nicht mehr Erreichbares: fieberhaftes Warten auf die Geliebte und Trauer auf dem Grab, Schneetoben und nächtliche Ritte, Revolten und göttliche Verfluchungen, Blut, Wollust und Tod. Ob Arpeggi wie Wasserperlen, ob vollgriffige Akkorde wie Schicksalshämmer, ob zarte Melodieranken oder rasende Tonkaskaden – vor allem bei Rachmaninoff, fast noch mehr als bei Chopin, gab es nichts, was diese Romantik nicht erzählen konnte. «Ich möchte dieser Zusammenschau epische Qualität geben», hatte Huangci am Anfang erklärt. Stehender Applaus, natürlich. (Text von Dorotea Bitterli)

Hinweis

Letzter Anlass von Aegeri Concerts 2023 am FR, 24. Nov., um 19.30: Klavierabend mit dem jungen Ukrainer Andriy Dragan