Zwischenräume in Raum und Zeit

Kunst & Baukultur

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Die Sonderausstellung «Us, You, Me» im Kunsthaus Zug über den Architekten, Designer, Theaterreformer und Künstler Friedrich Kiesler wurde mit drei Konzerten von Judith Wegmann und Andreas Kunz bereichert.

  • Judith Wegmann (Piano) und Andreas Kunz (Violine) interpretieren John Cage inmitten der eindrücklichen Werke von Friedrich Kiesler. Bild: Stefan Kaiser (Zug, 18. 5. 2024)
    Judith Wegmann (Piano) und Andreas Kunz (Violine) interpretieren John Cage inmitten der eindrücklichen Werke von Friedrich Kiesler. Bild: Stefan Kaiser (Zug, 18. 5. 2024)

Zug – Am Anfang sind da immer dieselben vier Klaviertöne. Ineinanderfliessend durch viel Pedal. Das Ohr begreift: Es geht um Wiederholung. Repetition als Prinzip, die Zeit klingend zu strukturieren. Judith Wegmann sitzt aufrecht am Flügel, und die Pianistin, die sonst Klavierliteratur aller Epochen hochvirtuos interpretiert, ist fokussiert auf diese vier Töne. Sie variiert sie unmerklich, durch Wechsel in Lautstärke, Tempo, Anschlag. Es ist viel Gefühl im Spiel, aber darum scheint es nicht zu gehen. Eher um so etwas wie Präsenz, Gegenwärtigkeit oder – Achtsamkeit.

Die aus Zug stammende Judith Wegmann spielt Morton Feldmans Werk «For John Cage» (1982), das sie bereits 2020, in der Ruhe der Corona-Zeit, zusammen mit dem Violinisten Andreas Kunz aufgenommen hat. Auch jetzt ist er ihr Partner, steht ihr gegenüber in der kleinen weissen Ausstellungshalle des Kunsthauses Zug. Er hängt feine Saitentöne in die Klavierklänge – wie eine Seidenraupe ihre Fäden zwischen Zweige und Blätter spinnt.

Die beiden Musizierenden sind umgeben von zwei riesigen und einigen kleineren Skulpturen des österreichisch-amerikanischen Künstlers Friedrich Kiesler. Und von etwa 15 vorwiegend älteren Zuhörenden, die es sich auf Klappsesseln oder Kissen im Raum bequem gemacht haben. Plötzlich ändert die Musik. Ein Akkord fällt unerwartet in den Raum wie ein Stein, der – ins Wasser geworfen – Wellenringe im stillen Teich verursacht. Nach klassischem Massstab ist er dissonant, aber auch diese Kategorisierung passt irgendwie nicht. Etwas später dann Akkord-Arpeggi – gleichsam Tonfächer.

Und so schreitet die Musik weiter, 110 Minuten lang. Im Hirn der Zuhörerin formen sich grafische, mathematische, florale und choreografische Muster. Linien, die zu Zeichnungen werden; Farben, die zu Bildern zusammenfliessen. Die funktionsfreien Klänge Morton Feldmans schaffen sozusagen einen kontemplativen Raum, und die Musik kann wie ein Bild betrachtet werden. Dabei wirken die Klavierklänge oft wie Flächen oder Tupfer aus einem Malerpinsel, die der Violine wie Striche oder Punkte, die ein Zeichenstift dazusetzt.

Es ist gar nicht zufällig, dass Matthias Haldemann, Direktor des Kunsthauses Zug, Judith Wegmann um die Organisation dreier Konzerte mit Werken von John Cage und Morton Feldman bat. Der Konzertort, die Kiesler-Ausstellung, gab den Ausschlag: Die drei Künstler waren – im Umkreis der «New York School» der 1940er- bis 1960er-Jahre – miteinander befreundet, ihre Künste inspirierten sich.

Friedrich Kiesler, 1926 aus Wien in die USA emigriert, wurde rasch berühmt als höchst innovativer Architekt, Bühnenbildner, Ausstellungsmacher und Designer, der «die Brücke von der Wiener Moderne und De Stijl über den Surrealismus bis zur amerikanischen Avantgarde der 1960er-Jahre schlug», beschreibt es die Website des Kunsthauses. Die Sonderausstellung «Us, You, Me» beleuchtet den bislang wenig beleuchteten Aspekt der bildenden Kunst von Kiesler.

Als unermüdlicher Networker war dieser mit dem Who’s is Who der Kunstwelt bekannt; steht aber auch als Inspirator am Anfang der Entstehung der «New York School», die sich seit 1942 aus einer Gruppe amerikanischer Maler und Dichter kristallisierte. Die künstlerisch-politische Aufbruchbewegung, die mit dem Begriff «Abstrakter Expressionismus» identifiziert wird, brachte einen intensiven Austausch über Theorien, Kunst und Kreativität hervor und beeinflusste unter anderem auch Musiker wie John Cage und Morton Feldman.

Hochaktuelle Kunst

Kiesler ignorierte die Grenzen zwischen den Künsten und verkörperte somit eine Transdisziplinarität, die heute hochaktuell ist. «Seine Malereien und Skulpturen interagieren mit der Umgebung – nichts existiert für sich allein», so die Kunsthaus-Website. Im Konzert steht Judith Wegmanns Flügel neben Kieslers Skulptur «David». Diese besteht, im Unterschied zu Michelangelos Marmorstatue, aus überlebensgrossen Körperfragmenten, die im Raum angeordnet und von Schienen gehalten sind: bronzenen Armen und Beinen, stählernen Händen, einem Fuss und einer massiven Oberkörperschale, in deren Rückseite sich ein Stierkopf verbirgt. Dazwischen: Luft.

«Der Zwischenraum ist ein roter Faden im Werk Kieslers», sagt Direktor Haldemann zu Beginn des Konzerts, und der Zwischenraum ist auch die Brücke zu den Feldman-Klängen. Hier aber in die Zeit transponiert – als Intervalle und Pausen. Beginnt man auf Zwischenräume und -zeiten zu achten, entsteht ein Gefühl für Stille, ein Gefühl von «Ewigkeit»: Menschliche Dramen sind darin aufgehoben. (Text von Dorotea Bitterli)