Verwurzelt für Veränderung
Dies & Das, Brauchtum & Geschichte, Musik
Der Zuger Klarinettist Mathias Landtwing ist in der Volksmusik zu Hause. Mit seiner Kapelle Gläuffig sprengt er jedoch regelmässig, was vielen Ländlerfreunden eben «gläuffig» ist.
Unterägeri – Dieser Artikel erschien in der November-Ausgabe 2024. Hier geht es zu den weiteren Artikeln.
Mathias Landtwing ist im Schuss. So sehr, dass unser Interview an einem Samstagabend um 21 Uhr mittels Freisprechanlage stattfindet. Er sitzt im Auto, ist auf dem Heimweg von einem Auftritt im KUK in Aarau in Richtung Zürich, wo er mit seiner Familie lebt.
Breit aufgestellt
Der gebürtige Unterägerer arbeitet derzeit an diversen musikalischen Projekten. Seit zwei Jahren ist er für das Programm der Zuger Jazz Night verantwortlich. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, komponiert er Musik für Dritte, wie vor drei Jahren für den Circus Lapsus Helveticus. Daneben spielt der Musikpädagoge in mehreren Formationen mit: Beim Mathias Landtwing Quartett, bei dem sich der Zuger grösstenteils auf eigens komponierte Stücke fokussiert. Die Bernhard & Landtwings Folk Jazz Horde bewegt sich, wie der Name verrät, eher im Bereich Jazz. Die Band Helvetikuss hat er für Circus Lapsus Helveticus ins Leben gerufen. Und dann ist da noch Gläuffig.
Sieht man sich das urban gehaltene Schwarz-Weiss-Cover des 2023 erschienenen Gläuffig-Albums «Momentum» an, würde man auf Pop tippen, allenfalls gar auf Post-Punk. Doch nichts dergleichen: Gläuffig bezeichnet sich selbst als Ländlerkapelle. Doch so einfach ist es eben auch nicht.
Fränggi Gehrig (Akkordeon), Lukas Gernet (Klavier), Pirmin Huber (Bass) und Mathias Landtwing (Klarinette) machen sowohl traditionelle als auch neue Volksmusik. Wer von ihrer Musik einfach den gängigen Schottisch oder eine handelsübliche Polka erwartet, wird überrascht. Und – je nachdem – auch vor den Kopf gestossen. Mit unerwarteten Choro-Annäherungen, Klezmer-Einlagen oder Ländlerstücken, die Dissonanzen und ungeahnte Wendungen zulassen, welche man in der traditionellen Schweizer Volksmusik so bisher kaum kannte.
Ist das also «neue Volksmusik»? Landtwing steht dem Begriff ambivalent gegenüber. «Was neue Volksmusik ist, wird nirgends wirklich definiert.» Wo sie ihre Ursprünge hat, ist hingegen klar. «Seit den 90ern wurde diese Art von Musik durch Formationen wie Pareglish, Pflanzplätz oder Hujässler verbreitet.» Ensembles wie sie brachten einen neuen Drall ins bislang sehr Traditionelle. «Musiker dieser Formationen hatten, oft durch Einblicke in andere Kulturen, neue Ideen heimgenommen und begannen, sie im bereits Bekannten zu implementieren. Dieses Bisherige zu durchbrechen gelang ihnen deshalb, weil die Musiker das nötige Know-how in Bezug zu Musiktheorie
und Kompositionslehre mitbrachten», erklärt Landtwing. Dass die Volksmusik plötzlich anders klang, war für die Puristen unter den Ländlerfans nicht immer einfach auszuhalten. «Gerade in den 90ern eckte die neue Volksmusik in gewissen Kreisen teils heftig an.» Das ist insofern ironisch, da die «traditionelle Ländlermusik», wie man sie heute kennt, nicht sonderlich alt ist. «Die Schweizer Volksmusik war bis im 19. Jahrhundert sehr durchmischt», sagt Landtwing.
«Zwar war man damals noch nicht sonderlich mobil. Deshalb müssen gerade Begegnungen mit Fahrenden, wie zum Beispiel jenischen
Menschen, musikalisch sehr prägend gewesen sein. Jenische Künstler und Musiker spielten oft auf Volksfesten und trugen so zur Pflege und Weiterentwicklung der Schweizer Volksmusikkultur bei.» Auch habe es Musiker gegeben, die schon zu jener Zeit Reisen unternahmen. Für Schallplattenaufnahmen mussten sie früher etwa nach Berlin oder Wien fahren, hörten dort Musik und implementierten diesen für sie neuen Stil in der hiesigen Volksmusik.
«Das Trio von ‹Roman fährt Automobil›, eines der bekanntesten Stücke des legendären Innerschweizer Klarinettisten Kasi Geisser, ist eine Adaption des Trios von Thurbans ‹Brooklyn Cakewalk› aus dem Jahre 1908. – Damals gab es die Suisa noch nicht.»
Richtig eingetaucht
Die Definition, wie traditionelle Volksmusik, darunter die Ländlermusik, zu klingen hat, sei erst deutlich später gekommen. «Das wurde während der Kriegsjahre durch die politisch-kulturelle Bewegung der sogenannten Geistigen Landesverteidigung festgelegt», sagt Landtwing. Ein Begriff, der durch den Zuger Bundesrat Philipp Etter 1938 zum ersten Mal formuliert wurde. Die Geistige Landesverteidigung verlangte während jener Zeit der politischen Unsicherheit die Stärkung der als schweizerisch deklarierten Werte. Dies insbesondere in kulturellen Bereichen.
«Die Volksmusik wurde in dieser Zeit, vor allem zwischen 1950 und 1990, quasi konserviert. Es war vorgegeben, wie sie zu klingen hatte, eine Entwicklung blieb aus. Und das, während sich in anderen Musiksparten, etwa im Pop oder Jazz, sehr viel bewegte», erklärt der 38-Jährige. «Einige hatten irgendwann genug von diesem starren Traditionellen in der Volksmusik und begannen, dieses aufzubrechen.» Kein einfaches Unterfangen, weiss Landtwing: «Um die Volksmusik zu verändern, muss man im Traditionellen beheimatet sein und dieses verstehen.» Trittbrettfahrer gebe es einige. «Musiker, die irgendetwas machen und das dann neue Volksmusik nennen. Im Jazz ist das ähnlich. Leute, die etwas machen ohne Bezug zur musikalischen oder stilistischen Tradition und es dann aber als Jazz anpreisen. Das ist quasi Etikettenschwindel.» Wie man sie als Laie erkennt? «Das ist relativ einfach. Wenn sie etwas Traditionelles authentisch spielen sollten, funktioniert es nicht. Es sind schon gute Musiker gescheitert, die sich an der Volksmusik versuchen wollten.» Das gelte im gleichen Masse auch umgekehrt. «Volksmusik ist eine Sprache, so wie andere Musikarten eben auch. Entweder befasst man sich damit oder eben nicht.»
Selbst verortet
Mathias Landtwing kann sowohl traditionell als auch neu. Gross geworden ist er mit der Ländlermusik. «Meine Eltern haben mich als Kind in die konzertante, eher gepflegte, Innerschweizer Ländlermusik eingeführt. Ich bin neben Blasmusik und klassischer Musik mit Jost Ribary, Fritz Dünner, Carlo Brunner oder der Kapelle Heirassa aufgewachsen. Das Urchige habe ich hingegen weniger kennengelernt.» Dieser Bezug zum Traditionellen wurde für ihn später, während seines Studiums an der HSLU, besonders wichtig. Dort studierte der Zuger Musikpädagogik in Klarinette mit Nebenfach Bassklarinette und Komposition an der klassischen Abteilung. Seinen zweiten Masterabschluss machte er in Music and Art Performance mit Schwerpunkt Jazz. «An der HSLU – Musik traf ich auf Gleichgesinnte, die ebenfalls in der traditionellen Volksmusik verwurzelt waren. Gleichzeitig wurden wir Studierenden mit viel neuer Musik konfrontiert, etwa mit Klassik, World Music und Jazz. Das fliesst nun in die Musik von Gläuffig ein.» Und weiter: «Wir finden die traditionelle Volksmusik überhaupt nicht schlecht. Doch wir wollen unsere eigene Musik machen.»
Während ihrer Anfangszeiten vor rund 15 Jahren spielte die Kapelle Gläuffig grösstenteils Musik anderer Gruppen. «Auf unserer ersten CD befinden sich vor allem traditionelle Stücke im Innerschweizer Stil, die jedoch selten gespielt werden, da sie anspruchsvoll oder in Vergessenheit geraten sind.» Die Formation dümpelte etwas dahin, jeder der vier Musiker ging seinen eigenen Projekten nach. «Doch wenn wir gemeinsam spielten, taten wir das jeweils sehr gern. Und wir funktionierten gut miteinander, denn der Probenaufwand hielt sich in Grenzen.» Unbefriedigend sei das auf Dauer trotzdem gewesen. «Mittlerweile haben wir uns Blockzeiten während des Jahrs reserviert, in denen wir möglichst viele Gigs spielen wollen. Ohne diese Koordination würde es nicht funktionieren, da wir alle sehr eingespannt sind.»
An öffentlichen Konzerten spielt die Ländlerkapelle Gläuffig nun fast ausschliesslich Eigenkompositionen. «Unsere Musik ist eine Mischung aus ernst und unterhaltsam, die mal mehr, mal weniger gehörfällig ist. Auch die Einflüsse anderer Musikrichtungen sind dabei mal mehr, mal weniger spürbar.» Dass sich die Stücke des neuen Albums stilistisch stark unterscheiden, dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass jeder der Musiker mehrere Stücke geschrieben hat.
«Diese Art von Unterhaltung funktioniert auf einer konzertanten Bühne nicht. Ebenso wenig wäre unsere Musik an einer Stubete am richtigen Ort.» Doch das ist auch nicht das Ziel von Gläuffig. «Vielmehr wollen wir harmonisch und technisch so spielen, dass es uns Spass macht.» Er denkt kurz nach, sagt: «Auch das ist ein Grund, warum wir hauptsächlich eigene Stücke spielen. Es ist ein Programm, das eher auf Kleinkunstbühnen denn an Tanzabende passt. Auch wenn unser Bezug zum Traditionellen nicht wegzudiskutieren ist.»
Text: Valeria Wieser