Die Baustelle als Klassenzimmer

Kunst & Baukultur

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Das Schulhaus Wiesental in Baar wird derzeit neu gebaut. Die Gemeinde hat die Gelegenheit genutzt und die Baustelle gleich in den Schulunterricht reingepackt. Die Kinder lernen dabei weit mehr, als nur Baupläne zu lesen.

  • Kinder lernen Baukultur beim Workshop «Unser Schulhaus» an der Schule Wiesental in Baar. (Bild: PD)
    Kinder lernen Baukultur beim Workshop «Unser Schulhaus» an der Schule Wiesental in Baar. (Bild: PD)

Baar – Dieser Artikel ist in der November-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den anderen Artikeln. 

Zehn Knirpse stehen auf einer Baustelle in Baar. Sie alle tragen Leuchtwesten und bunte Velohelme, blicken in die eingezäunte Baugrube hinab und lassen sich von Stefanie Kasper erklären, wie eine Spundwand funktioniert. Für die Siebenjährigen ist es sichtlich schwierig, sich nur auf die Worte der Kulturvermittlerin zu konzentrieren, denn überall passiert etwas. Zement wird mit dem Kran durch die Luft gehievt, ­Männer schleppen Werkzeuge herum und schwatzen, ein Bagger fährt übers Gelände. Hier entsteht die neue Schule Wiesental von PENZISBETTINI Architekten.
Ein Mädchen fragt: «Wird das neue Schulhaus schön aussehen?» Worauf die Workshopleiterin erklärt, dass das immer auch Geschmackssache sei. «Der grosse Unterschied zum vorherigen Bau ist, dass die neuen Gebäude aus Holz gebaut werden. Das braucht bei der Herstellung viel weniger Energie als Beton.»
Eine Idee, wie das neue Wiesental-Schulhaus künftig aussieht, erhalten die Kinder dennoch bereits. Vom sogenannten Mock-up, einem zweistöckigen Modell im originalgetreuen Massstab, sind die Schüler:innen schwer angetan. An diesem testen die Architekten und Bauunternehmer unterschiedliche Materialien und Farben. Das Häuschen gibt einen Vorgeschmack darauf, wie die künftigen Gebäude dereinst aussehen werden. 
Die riesige Baustelle, auf der sich die Schulklasse – in sicherem Abstand von schweren Maschinen und heiklen Materialien – befindet, ist nicht nur für Kinder spannend. 

Halb Schulhaus, halb Baustelle
Es handelt sich nämlich um eine Operation am offenen Herzen. Während hier, neben der Waldmannhalle, ein neues Schulhaus aus dem Boden gestampft wird, sitzen in drei Schultrakten der alten Schule Wiesental, nur einen Steinwurf von Kran und Co. entfernt, nach wie vor Kinder im Unterricht. Erbarmungslos wurde der bisherige, etwas höher liegende Schulhof mit einer weissen Wand unterteilt. 
Während auf dem Überbleibsel des einst grossen, treppenlastigen Schulplatzes nach wie vor Schulkinder ihre Pause verbringen, geht’s auf der östlichen Seite der Bauwand mehrere Meter runter in die Baugrube.
Was ennet der weissen Wand passiert, ist für die Kinder nicht irrelevant. Im Gegenteil: In zwei Jahren werden einige der Schulkinder, die heute im alten Wiesental zur Schule gehen, in das brandneue Schulhaus umziehen. 
Die Workshops des Vereins LABforKids, welche Stefanie Kasper im Wiesental durchführt, sind prima Gelegenheiten, den Kindern das Thema Baukultur anhand eines sehr konkreten Beispiels näherzubringen. «Indem sich die Kinder bereits jetzt mit Bauten auseinandersetzen, werden sie befähigt, sich selbst eine Meinung zu bilden zu den Geschehnissen um sie herum», sagt Stefanie Kasper. 
In den Workshops lernen die Kinder, sich Gedanken zu machen über die Gestaltung ihres künftigen Schulhauses, über Materialien, die verwendet werden, und die verschiedenen Funktionen von gebauten Räumen. «Kinder verbringen so viel Zeit in der Schule. Es ist gut, wenn sie sich damit auseinandersetzen, warum Innen- und Aussenräume so gestaltet wurden, wie sie es sind.»
Ausserdem, so gibt Kasper zu bedenken, «geht es auch darum, dass die heutigen Workshop-Teilnehmer:innen Kompetenzen lernen, welche ihnen später nützen, etwa im Umgang mit politischen Prozessen. Es hilft zum Beispiel, wenn sie dann fähig sind, Baupläne zu lesen.»

Auch auf dem Satellitenbild erkennbar
Dass das Thema keineswegs zu abstrakt ist für die noch frischen Erstklässler:innen, zeigt sich beim Theorieteil des Workshops. Zunächst zeigt Kasper dort einen Ausschnitt von Google Earth, auf dem das Schulhaus von oben zu sehen ist. 
Worum es sich beim Kartenausschnitt handelt, realisieren die Kinder schnell. Nicht zuletzt wegen des auffälligen gelben Quadrats, das auf der Satellitenaufnahme bestens sichtbar ist. Die gelbe «Stufenpyramide» aus dem Jahr 1971 – derzeit eingezäunt, da der neue Belag zu rutschig ist für die Klettermanöver der Kinder – ist längst ein Wahrzeichen des Schulhauses.
Nun ersetzt Kasper die Satellitenkarte durch einen Situationsplan des alten Schulgeländes. Die Schüler:innen haben wenig Mühe, den bisherigen Plan mit ausgeschnittenen Schaumgummistücken selbst nachzubilden und diesen mit dem neuen zu vergleichen.
Auch über den Grund, warum das bisherige Schulhaus aus den späten 1960ern überhaupt abgerissen werden muss, wissen gewisse Schüler bestens Bescheid: «Es versinkt ein wenig im Boden.» Tatsächlich mussten die Architekten Hans Peter Ammann und Peter Baumann den Bau damals unter enormem Kosten- und Zeitdruck ohne genügend Vorkehrungen auf instabilem Baugrund erstellen, was dem Bauensemble nun zum Verhängnis wird. «Sie mussten schnell vorwärtsmachen und gleichzeitig Geld sparen», sagt Kasper vor der Klasse.

Die Schule trägt das Projekt mit
Es ist nicht der erste Workshop, den Kasper mit Schüler:innen vom Wiesental durchführt. «Je nach Alter gestalte ich die Workshops natürlich anders. Thematisch, aber auch zeitlich. Bei den Erstklässler:innen, die erst seit sechs Wochen die Schulbank drücken, ist die Aufmerksamkeitsspanne kurz.» Entsprechend abwechslungsreich hat das Programm zu sein.
Die Arbeit in den Schulen ist für die Kunstvermittlerin besonders anspruchsvoll. «Die Voraussetzungen der einzelnen Kinder sind sehr unterschiedlich. Einige Kinder wissen bereits viel, weil vielleicht ein Elternteil im Baubereich tätig ist oder sie sich selbst für Baustellen interessieren. Für andere ist das alles Neuland», sagt Kasper. «Diese Workshops schaffen Zugänge für alle und sind auch im Sinne der Chancengleichheit wichtig.»
Die Workshops von LABforKids werden im ­Auftrag der Gemeinde Baar durchgeführt. Gemeindepräsident Walter Lipp spricht dabei von «Anschauungsunterricht vom Feinsten» und fügt hinzu: «Die Situation mit der Baustelle nebenan ist für Kinder eine ideale Gelegenheit für einen Einstieg ins Bauwesen.» 
Anstatt den Kindern nur Wissen von aussen zu vermitteln, würden sie direkt miterleben, was vor Ort passiert. «Das Projekt bedingt natürlich, dass es von der Lehrerschaft mitgetragen wird.» Das sei im Wiesental der Fall: «Die Schule steht voll dahinter.»

 

(Text: Valeria Wieser)


Box: Baukultur für Kinder

«Unser Schulhaus» ist ein Angebot des Vereins LABforKids. Der Verein ist auf baukulturelle Vermittlungsformate für Schulklassen der Primar,- Sekundar- und Berufsschule spezialisiert, die er in Zusammenarbeit mit Architekten und Pädagogen entwickelt und auf die jeweiligen Bedürfnisse der interessierten Lehrpersonen und Schulhäuser abstimmt. 
Ziel ist es, die Neugierde der Kinder an Baukultur zu wecken und ihnen das Wissen mitzugeben, um ihre eigene Meinung zu bilden und ihre Umwelt aktiv mitzugestalten. Dies auf spielerische und kreative Art und Weise, jedoch im Einklang mit dem Lehrplan 21.