Eine neue Kunst der Abstraktion

Kunst & Baukultur

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Das Kunsthaus öffnet ein Fenster nach Australien. Genauer: nach Utopia in Alice Springs. Noch genauer: mitten hinein in eine Malerei, die direkt dem Land entspringt. Und seinen Künstlerinnen.

  • Maisie Bundey, Body Painting & Yam Seed of Alalgura, 2008, Sammlung Pierre und Joëlle Clément, Zug
    Maisie Bundey, Body Painting & Yam Seed of Alalgura, 2008, Sammlung Pierre und Joëlle Clément, Zug
  • Polly Kngale, Summer Awelye, 2003, Sammlung Pierre und Joëlle Clément
    Polly Kngale, Summer Awelye, 2003, Sammlung Pierre und Joëlle Clément

Zug – Autorin: Jana Avanzini. Dieser Text ist in der November-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier gehts zum Magazin.

Blicken wir auf die neue Welt. Australien. Nicht auf die hippen Surfcamps an der Küste und die grauen Millionenstädte voller Sehenswürdig­keiten. Wir blicken auf Linien aus vielfarbigen wilden Punkten, auf grossflächige, vielschichtige und energiegeladene Bilder. Auf Abstraktion und Rhythmus – auf Träume.

Steht man mittendrin, verwundert es nicht, dass die Bilder von Emily Kame Kngwarreye seit den 1970er-Jahren internationale Aufmerksamkeit erhalten und bereits an der Biennale in Venedig zu sehen waren. Die Werke der verstorbenen Künstlerin entwickeln sofort Sogwirkung. Die Geschichten, die das Sammlerpaar Joëlle und Pierre Clément zu erzählen haben, verstärken diese zusätzlich. Zum Beispiel, dass sie mit erst 74 Jahren zu malen begann, nur 1,20 Meter gross war und Chief ihres Clans. Dass sie, Picasso der Wüste genannt, 3000 Bilder innerhalb von sechs Jahren malte. Ihre Bilder zeigen kein Zögern, keine Zurückhaltung, eine ganz eigene Handschrift. «Sie zeigt Stärke, aber nicht Gewalt, sondern Lebensfreude und Engagement», so Pierre Clément.

Wir befinden uns im Südflügel des Zuger Kunsthauses, und das Ehepaar Clément steht fast andächtig da, zwischen den zwanzig grossflächigen Bildern, die Kngwarreye allesamt auf dem Boden malte, wie es bei den Aborigines-Künstlerinnen und -Künstlern üblich ist.
Erst im vergangenen Januar hatten Joëlle und Pierre Clément diese Bilder über ihre Freundin und Emily Kame Kngwarreyes Begleiterin, Janet Holt, ins Kunsthaus geholt. Sie sind nun Teil der Ausstellung «My mother country», die neben Kngwarreyes Werken auch fast 80 Malereien zahlreicher Künstlerinnen und Künstlern aus der privaten Sammlung des Ehepaars zeigt – im Nordflügel.

Rhythmus, Körperbemalung, Freiheit
Hier geht es weiter mit den rhythmischen, abstrakten Bildern. Maisie Bundey gleich zu Beginn. Man sieht, was man sehen will. Im ersten Moment Reihen von Frauen, in rosa und pink. Sie stehen kopf. Joëlle Clément weiss mehr: So geht es hier tatsächlich um Frauen, doch, weiss man Bescheid, sind bemalte Brüste, unzählige davon, erkennbar. Die Mehrzahl der Künstlerinnen, die hier ausstellen, sind Frauen. Sie malen freier, orientieren sich weniger an ­klaren Strukturen oder Ornamenten, wie es die Männer in der modernen Aborigines-Malerei in der Region Alice Springs tun. Inspiriert sind sie von ihrer Landschaft, den Farben darin, ihren Köpermalereien und Träumen.

Der Mensch als Teil des Landes
Er habe durch diese Ausstellung eine Lektion gelernt, sagt Museumsdirektor Matthias Haldemann. Er selbst hat Australien nie besucht, keinen Bezug zur Geschichte und Kultur der Aborigines. Doch nicht nur die Ästhetik, die einmalige, eigene Bildsprache mit ihrer verblüffenden Verwandtschaft zu westlicher abstrakter Malerei haben es ihm angetan, sondern auch die ethisch-moralischen Fragestellungen, die sich aus der jahrtausendealten Kultur der Aborigines und ihrer Lebensweise heraus stellten. «Die Aborigines wissen, dass sie zu ihrem Land gehören, Teil davon sind. Der Mensch ist Teil des Landes, nicht Besitzer», so Haldemann. Es ist ein politisch, ökologisch und ökonomisch hochaktuelles Thema. Besonders in Zug, mittendrin in einer Gesellschaft, die eben genau aus einer entgegengesetzten Haltung viel Profit zieht. In einem Museum, welches auch Gelder aus dem Rohstoffhandel zur Verfügung gestellt bekommt und nun eine Ausstellung von Künstlerinnen und Künstler eines vertriebenen und ausgebeuteten Volkes zeigt.

Keine Liebhaberei, sondern ein Glücksfall
Die Ausstellung sei mehr als gut besucht und die Begeisterung der Besuchenden für die in der Schweiz eher unbekannte Kunstbewegung auffällig gross, sagt Haldemann. Und auch die seine ist spürbar. Das sei sie schon gewesen, als das Ehepaar Clément ihm vor rund zwei Jahren ihre Sammlung zeigte.
Oft handle es sich bei privaten Sammlungen um Liebhaberei, um Ansammlungen von Kunst. Diese jedoch sei ein Ensemble, eine Museumssammlung, so Haldemann. Deshalb hielt er auch nichts vom Vorschlag des Ehepaars, vielleicht zwei, drei Bilder in eine Ausstellung des Kunsthauses zu integrieren. «Ich wollte damit das ganze Haus bespielen. Und sie passte, wie dafür gesammelt, perfekt in unsere Räumlichkeiten.» Ein Glücksfall. Besonders bei einer Sammlung, die das Paar nie geplant hat. «Wir wollten Künstler und Kundinnen, Künstlerinnen und Galeristen zusammenbringen. Wir wollen die Brücke sein, nicht die Sammler», sagt Joëlle Clément. Die Bilder hätten sie einfach in den Bann gezogen.

Die erste Reise nach Australien
Begonnen hatte das Interesse der Sammlerin an der modernen Malerei der Aborigines 1997, in einer kleinen Galerie in Lausanne. Bald darauf folgte die erste Reise nach Australien. Zu Beginn blieb sie vier Wochen in der Region rund um Utopia, lernte Künstlerinnen kennen, baute Beziehungen auf, entdeckte immer weitere spannende Kunstschaffende und ganze Familien. Sie eröffnete eine klitzekleine Galerie in Vevey, verkaufte die Werke – mit Erfolg. Mit jedem Jahr, jeder Reise von mehreren Wochen, wuchs die Sammlung des Ehepaars, teilweise um riesige Malereien. Als das Ehepaar vor neun Jahren nach Zug umzog, begannen die Überlegungen, ein Museum zu finden, welches die mittlerweile auf fast 80 Werke gewachsene Sammlung ausstellen würde.

Kunst, die Geschichten ausdrückt
Es handelt sich um zeitgenössische Kunst, der westlichen abstrakten Kunst sehr ähnlich.
Bei den Aborigines jedoch ist sie Ergebnis einer religiösen und rituellen, meist rhythmisch und sehr körperlich ausgeführten Malerei. Sie hat ihre Wurzeln in Tänzen und Gesängen, in Körper- und Sandmalereien, in der Natur und ihren Gewalten. Es ist eine Malerei, die Inhalte und Geschichten ausdrückt, für uns jedoch sind sie kaum lesbar. Um diese Ebene jedoch für Betrachtende aus dem Westen sichtbar zu machen, liegen im Kunsthaus Zug Ordner mit Dokumentationen auf. Begegnungen mit den Künstlerinnen, Hintergründe zur Arbeit, Kultur und familiäre Verbindungen vieler der Kunstschaffenden werden darin aufgezeigt.  

Eine neue Haltung
«Es ging uns bei unseren Reisen stets darum, Künstlerinnen und Künstler zu treffen», sagt Joëlle Clément dazu mit Nachdruck. Niemals eine Aborigines-Entdeckungsreise oder ein Entwicklungsprojekt. Immer noch treffe das Paar jedoch oft auf die veraltet geglaubte Haltung des «kleinen weissen Menschen», dass die Welt ihn brauche, um sie zu zivilisieren. Auch dieser Haltung will die Ausstellung abstrakter und moderner Kunst der Aborigines entgegenwirken.