Drei Könige

Literatur & Gesellschaft

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Die Zuger Schriftstellerin Melanie Gerber nimmt uns mit in eine ganz private, nachweihnächtliche Post-Apokalypse.

  • Stern von Bethlehem. Illustration: Dominik Dördelmann.
    Stern von Bethlehem. Illustration: Dominik Dördelmann.
Zug – Dieser Beitrag ist in der Januar/Februar-Ausgabe des Zug Kultur Magazins erschienen. Hier geht es zu den weiteren Beiträgen.

Von weitem hört Bruno Musik und Stimmengewirr. Gerade hätte er es lieber ruhig. Pausen sind ihm ein Graus. Er mag nicht auf Schüler treffen, will nicht sehen, wie sie durch die Gänge schlurfen, sich auf die Schultern klopfen, einander zu Partys einladen oder Sachen sagen wie «Bro» und «Alter», was die Jungen eben so sagen, Simon ist da nicht anders.
Nach der Pause muss Bruno den Putzraum aufschliessen, um von der schön gestapelten Beige ein paar Rollen Toilettenpapier zu holen. Die sind immer so schnell leer. Bruno pfeift dabei, stutzt dann aber, denn die Türe quietscht beim Aufmachen. Er bewegt sie hin und her, hört ­genau hin. Tatsächlich. Das wird er sich gleich auch noch anschauen müssen.
Auf dem Weg zu den Toiletten kommt Bruno an der Schachtel vorbei. Die drei Könige. Die hätte er beinahe vergessen. Wenigstens sind die ruhig. Mit glänzenden Kronen auf dem Kopf stehen sie im Kreis, in Gesellschaft von beladenen Kamelen und Engeln und all den anderen Krippenfiguren. Bruno wollte sie schon lange wegräumen. Weihnachten ist vorbei, und das ist auch gut so. Er will gar nicht mehr daran erinnert werden. Doch da stehen die Könige mit Maria und Josef und grinsen ihn höhnisch an. Deshalb müssen sie verschwinden. In der Schachtel sind sie schon.
Bruno zuckt zusammen, als er hört, wie eine Türe aufgeht. Bestimmt die Klasse vom Gruber. Der lässt sie immer früher gehen. Da ist auch schon der lange Grosse, der jeweils die PET-Flaschen in der Gegend herumschmeisst, anstatt sie sorgfältig zu entsorgen. Dabei sind die Abfallbehälter doch mit schwarzen Piktogrammen versehen. Dafür hat Bruno sich eingesetzt, für die Abfalltrennung und dass die Eimer auf jedem Stock aufgestellt werden. Schön sind sie, glänzend und gross.
Der Lümmel hat dieses Mal keine Flasche dabei, dem hätte Bruno sonst etwas gesagt. Stattdessen erzählt er vom Wochenende, beachtet Bruno gar nicht und legt den Arm um eine Mitschülerin. Dann bleibt er einfach in der Schiebetüre stehen. Muss das sein? Jetzt lässt der Kerl doch die ganze Kälte von draussen in den Raum. Kathrin macht das auch immer. Bruno muss dann von einem Raum zum anderen gehen und die Fenster schliessen, weil Kathrin in Gedanken längst woanders ist, bei den Kindern oder einer  Freundin oder so, vielleicht sogar bei ihm. Davon hat er jetzt genug! Dieser Lümmel will ihn doch absichtlich ärgern.
«Drinnen oder draussen», zischt Bruno. Seine Stimme klingt weniger böse, als er wollte.
«Hä?», fragt der Grosse.
«Drinnen oder draussen», sagt Bruno noch einmal, das Toilettenpapier auf dem Arm. «Du musst dich entscheiden. Die Kälte.»
Der Lümmel flüstert dem Mädchen etwas ins Ohr. Sie nickt und lacht. Dann gehen sie nach draussen.
Bruno wartet, bis die Schiebetüre wieder zu ist. Besser fühlt er sich trotzdem nicht. Das Toilettenpapier legt er auf die Bank und nimmt stattdessen die Schachtel mit den Krippenfiguren. Klein sind sie. Und in der Kiste gefangen. Wütend mustert Bruno sie. Sie können da nicht raus, denkt er. Ich kann sie vernichten. Im Keller wartet ein Regalbrett auf sie, daneben die Osterdekoration, aber ich kann sie auch einfach entsorgen. Nicht zurückstellen. Nächstes Jahr wird jemand sie suchen und dann sind sie einfach nicht da und ich, ich alleine weiss, was mit ihnen passiert ist.
Was passiert ist. Was an Weihnachten passiert ist.
Bruno schaut Melchior an. Oder ist es Kaspar? Er denkt an Kathrin, die wüsste es. Die weiss solche Sachen. Aber Kathrin kann er eben genau nicht fragen. Nicht mehr. Sie war es, die als Erste etwas gesagt hat, an Heiligabend, als die Kinder zu Besuch kamen.

«Es geht nicht mehr», hat sie gesagt und die Fonduegabel sinken lassen. Die Blicke nahm Bruno nur aus den Augenwinkeln wahr, drei Augenpaare, alle auf ihn gerichtet, ganz bestimmt. Es geht nicht mehr. Natürlich nicht. Das weiss Bruno auch. Das muss aufhören, das alles. Teilen mochte er noch nie, schon gar nicht seine Frau. Ist es wegen ihm, hätte er fragen wollen. Stattdessen schwieg er.

«Was?», rief Flavia in die Stille hinein, während Simon sie unter dem Tisch zum Schweigen bringen wollte und dabei den Vater erwischte. Bruno schaute ihn an. Er schaute sie alle an, bevor er die Gabel auf den Teller legte und ging.
Bruno nimmt Melchior in die Hand und setzt sich mit ihm auf die Holzbank. Er schaut ihn lange an.
Dann nimmt er die Schachtel, schaut sich um und geht nach draussen.
Da sind schon Fussspuren im Schnee. Vor ihm müssen ein Mann und ein Hund vorbeigekommen sein. Es ist ruhig. Nur ein Flugzeug durchbricht die Stille. Bruno stellt sich vor, wie die Passagiere seine einzigen Zeugen sind, die einzigen, die dabei zusehen, wie er die Schachtel umkippt und die Figuren im Teich ertränkt. Er schaut zu, wie Kaspar, Melchior und Balthasar auf dem Rücken liegend untergehen. Dazwischen schwimmt ein Kamel.
Vielleicht werden sie im Frühling gefunden. Nächste Woche soll es noch einmal so richtig kalt werden. Dann wird sich eine Eisschicht über die Angelegenheit legen.
Wie unter Strom geht Bruno zurück ins Gebäude, die Kartonschachtel hat er immer noch in der Hand. Langsam geht er durch den Gang, pfeift wieder, als er die Türe zum Putzraum aufmacht und die Schachtel fachgerecht im Alt­karton entsorgt. Die Türe quietscht immer noch. Dafür hat Bruno genau den richtigen Spray. Jetzt, wo die Schiebetüre zu ist, spürt Bruno die warme Luft der Heizung. Alles ist gut.

(Text: Melanie Gerber)


Über die Autorin:
Melanie Gerber schreibt für Kinder und Erwachsene. Sie studierte in Paris Literatur und besuchte in Zürich einen Bildungsgang in Literarischem Schreiben. Gemeinsam mit vier Autorinnen und einer Musikerin ist sie unter dem Namen «Liederatour» in der Schweiz unterwegs, und als Frau Spatz erzählt sie Alltagsmomente im Internet. Die Autorin von «Im Himmel gibt es Luftballons» (Baeschlin, 2020) lebt heute in Zug.
melaniegerber.com