Fremde Bräuche wurden heimisch
Brauchtum & Geschichte
Auch wenn ihr Name anderes vermuten lässt: Unserer Redaktorin fiel es schwer, in Oberägeri richtig anzukommen. Die Fasnacht half bei der Integration.
Oberägeri – Ein Bild, das ich mit dem Kanton Zug – und noch mehr mit Oberägeri – in Verbindung bringe, existiert in erster Linie in meinem Kopf. Ich sehe den Oberägerer Dorfplatz, zwischen dem «Rössli» und der ehemaligen Molki. Erkennbar ist auch eine grosse Menschenmenge, der Oberägerer Legorenrat und die Legoren, Tiroler und Guggenmusiken. Es herrscht ein farbenfrohes Durcheinander. Reden werden gehalten und Musik ertönt.
Im Zentrum dieses scheinbar organisierten Chaos ist der grosse «Grind» mit der bunten Narrenkappe. Er ist das Symbol der Oberägerer Fasnacht. Jedes Jahr vom 5. Januar bis zum Güdeldienstag hängt er über der Kreuzung beim Rössli. Oberägeri wird dann zu Legorien. Die Fasnächtler haben das Sagen.
Selbstredend gibt es unzählige Abbildungen dieses Vorgangs zur Fasnachtseröffnung. Ich habe aber keine zur Hand, weder analog noch digital. Diesen plastischen Beweis brauche ich nicht. Die Erinnerungen und das jährliche Wiedererleben reichen.
Die innere Unruhe und Aufgeregtheit, die dieser Anlass jahrelang in mir auslöste, sind sofort wieder präsent. Ich war leidenschaftliches Mitglied einer Guggenmusik. Nach der Grindufhänkete hiess es: Fasnachtsparty nach Fasnachtsparty. Ein Leben von Wochenende zu Wochenende. Sicher, von aussen betrachtet gleicht der Verein einer Art Spassorganisation, bei der es nur um Leichtigkeit, Alkohol und Tanzen bis in die frühen Morgenstunden geht. Das ist nicht ganz falsch.
Freundschaften, Ehen und Kinder
Doch im Innern geht es viel tiefer. Da wurden Freundschaften geschlossen, Grundsteine für Lebensgemeinschaften gelegt, Kinder gezeugt, Geschäftspartnerinnen und Geschäftspartner gefunden. Es entstanden (Schnaps-)Ideen, und neue Traditionen wurden begründet. Zu später Stunde an der Bar oder während der Heimfahrt im Car ergaben sich Gelegenheiten für einmalige Gespräche. Für einen beschränkten Zeitraum war man den anderen Vereinsmitgliedern so nahe wie sonst kaum jemandem. Selbstverständlich gab es auch Abende zum Vergessen und ab und zu folgte am nächsten Tag die berüchtigte Sonntagsgrippe.
Die Guggenmusik-Zeit hat mein Leben nachhaltig geprägt. Aber nicht nur das. Der Verein hat auch dabei geholfen, dass Oberägeri eine neue Heimat für mich werden konnte. Als meine Familie den Schritt vom Urner- ins Zugerland wagte, hatte ich gerade die Primarschule hinter mir. Durch den Wechsel an die Kanti in Zug fehlten mir die Kontakte im Ägerital.
Eine gemeinsame Schulzeit, gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen: Das alles habe ich in Erstfeld zurückgelassen. Durch die Fasnacht aber habe auch ich Anschluss gefunden. Heute kann ich auf einen reichen Fundus an geteilten Geschehnissen zurückblicken.
Zurück zum Bild: Genauso fremd wie die Oberägererinnen und Oberägerer waren mir zu Beginn die lokalen Fasnachtstraditionen. Wieso der «Grind» mit seinem eher ausdruckslosen Gesicht, das sich nicht wirklich auf die Fasnacht zu freuen scheint, genau am 5. Januar aufgehängt und am Güdeldienstag wieder heruntergeholt wird, ohne dass er verbrannt worden ist, ist mir schleierhaft geblieben.
Traditionen aneignen und für sich selber interpretieren
Die Geschichte der Tiroler und Legoren ist mir mittlerweile bekannt. Dieser historisch gewachsene Brauch ergibt Sinn. Aber eine emotionale Verbundenheit fühle ich bis heute nicht. Dafür muss man wohl tatsächlich mit diesen Traditionen aufwachsen. Dass man sich Traditionen aneignen und sie für sich selber interpretieren kann, diese Erfahrung habe ich gemacht. Wenn ich an die Szenerie auf dem Dorfplatz denke, an den Legorenvater, der seine Zeremonien durchführt, an die tänzelnden Tiroler, den Legorengrind, der mit dem Leiterwagen herangefahren wird, und vor allem an all die bekannten Gesichter um mich herum, dann löst das ein Gefühl von Zuhausesein aus.
Hinweis
Für diese Serie suchen wir uns ein für uns bedeutendes Bild aus, das in irgendeiner Weise mit Zug in Verbindung steht.
(Text: Carmen Rogenmoser)