Ein Wagnis ist geglückt

Musik

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Motivische deutsche Romantik versus politisch aufgeladene sowjetische Moderne: Die Klaviervirtuosin Anna Vinnitskaya und das Brahms Ensemble leisteten bei ihrem kontrastreichen Konzert in Unterägeri Grosses.

  • Geballte Spielenergie: Das Brahms Ensemble und Anna Vinnitskaya am Piano überzeugten mit einem anspruchsvollen Konzertprogramm.Bild: Stefan Kaiser (Unterägeri, 2.10.2024)
    Geballte Spielenergie: Das Brahms Ensemble und Anna Vinnitskaya am Piano überzeugten mit einem anspruchsvollen Konzertprogramm.Bild: Stefan Kaiser (Unterägeri, 2.10.2024)

Unterägeri – «Diese Programmwahl war ein Wagnis», meinte Sabina Keresztes, nachdem am Dienstagabend das dritte Aegeri Concert der laufenden Saison verklungen war. Die Veranstalterin und Kuratorin der Konzertreihe in der Ägerihalle sprach die Worte mit Erleichterung: Die Gegenüberstellung zweier Klavierquintette, die stilistisch und musikhistorisch unterschiedlicher nicht hätten sein können, ist geglückt. Ja, zum einen war das offensichtlich der hochkarätigen Besetzung zu verdanken: Die international bekannte Pianistin Anna Vinnitskaya sass mit dem eben aus Tokio angereisten Brahms Ensemble – vier Streicherinnen und Streicher der Berliner Philharmoniker – auf der Bühne. Zum anderen aber dürfte es eben gerade dieser ausgeprägte stilistische Bruch gewesen sein, der die Spannung bis zum Schlussakkord aufrechterhalten hat.

So gewohnt liebreizend, gefällig und mit einer subtil wienerischen Leichtigkeit Brahms’ Pianosolo-Œuvre ansonsten daherkommt, so anspruchsvoll, dicht und ernst sind seine symphonisch geprägten Kammermusik- und Orchesterwerke. Es zeichnet sich denn auch sein Klavierquintett in f-Moll op.34 – 1865 in Basel erstmals aufgeführt mit Brahms persönlich am Klavier – mit einer satten Harmonik und hoher emotio­naler Tiefe aus, wie es für die grossen Werke der Romantik charakteristisch ist.

Emotionalität auf unterschiedlichen Ebenen

Dass an diesem Abend – entgegen des Konzepts – erstmals eine kurze Pause eingelegt worden ist, war der hohen Anstrengung geschuldet, welche beide Hauptwerke für die Musikerinnen und Musiker bedeuten. Damit sie kurz «verschnaufen» können. Genauso diente der Unterbruch auch dem Sich-sammeln des Publikums angesichts des bevorstehenden Stilbruchs, zu dem Anna Vinnitskaya mit einem lieblichen Pianosolo-Intermezzo – dem 5. Walzer aus Schostakowitschs Ballettsuite Nr. 3 – überleitete.

Mit dessen Klavierquintett in g-Moll op.57 war jedoch gleich wieder «fertig lustig». Im Jahre 1940 vor dem Hintergrund der sowjetischen Politik und deren rigoroser Kulturdoktrin geschrie­ben, scheint Schostakowitsch in op.57 die Auswirkungen des bereits wütenden Zweiten Weltkrieges auf den erweiterten Osten Europas antizipiert zu haben.

So gestaltet sich Schostakowitschs Quintett auf ganz andere Weise emotional: Was bei Brahms pure, opulent orchestrierte Leidenschaft, sind beim Russen Melancholie und mit Sarkasmus einhergehende Schwermut, die sich mitunter auf eine minimalistische Instrumentierung reduziert. Doch beide sind stark geprägt von einem laufenden Dialog zwischen den einzelnen Instrumenten, von denen jedes eine gleichwertige Rolle spielt. Und vor allem hierin liegt der hohe technische Anspruch an die Interpretinnen und Interpreten, denn beide Quintette verzeihen kaum Unsauberkeiten in diesem laufenden Wechselspiel von Aktion und Reaktion in all seinen Varianten.

Kräftezehrender Schostakowitsch

Die russischstämmige Klaviervirtuosin und die vier Phil­harmoniker brachten – ganz erwartungsgemäss – sämtliche Voraussetzungen mit für das an­spruchsvolle Programm, meisterten beide Höhepunkte der europäischen Kammermusik brillant. Dass man sich – je nach Sitzposition – das Klavier punktuell etwas dominanter gewünscht hätte, mag in der Anordnung des Ensembles begründet liegen, wodurch die Pianistin auch an Bühnenpräsenz einbüsste. Was andererseits ihrer Haltung entspricht, dass nicht sie als Interpretin im Zentrum stehen soll, sondern das Werk.

Die 41-jährige Klaviervirtuosin machte nach Ende der Vorstellung aus ihrer Erschöpfung denn auch keinen Hehl. «Vor allem der Schostakowitsch war sehr kräftezehrend», räumte sie im anschliessenden Künstlergespräch ein und dürfte somit auch auf Verständnis gestossen sein, warum von einer Zugabe abgesehen worden war. Und vom erfahrenen Streichensemble erfuhr man, dass es an diesem Abend zum ersten Mal Brahms Schostakowitsch gegenübergestellt hatte. «Es war eine gute Erfahrung», resümierte Violinist Raimar Orlovsky.

Hinweis

Nächstes Konzert der Reihe: Klavierabend mit Huijing Han am Donnerstag, 24. Oktober, 19.30 Uhr in der Ägerihalle.


(Text: Andreas Faessler)