Gefangen im Netz der KI
Kunst & Baukultur
Wie das Gemälde eines Zuger Künstlers die Unberechenbarkeit von Künstlicher Intelligenz verkörpert.
Zug – Hat mich die künstliche Intelligenz schon in ihrem Netz gefangen? Diese Frage brannte sich mir in den Kopf, als ich das Gemälde «Born in a Watermoon» des Zuger Künstlers Andrew Gray betrachtete. Es zeigt einen Mann. Er sitzt an einem Tisch und spielt Go (Ziel des Strategiespiels Go ist es, mit schwarzen oder weissen Steinen möglichst viel Gebiet zu kontrollieren). Mit einer Hand stützt er seinen Kopf, während er mit der anderen einen Spielstein platziert. Auf der linken Seite des Bildes ist eine Gestalt in einem Kimono zu sehen. Ihre Erscheinung wirkt surreal, da sie in einer Art Pixelmuster zu verschwimmen scheint.
Der Mann ist Lee Sedol, einer der grössten Go-Spieler aller Zeiten, der 18 Weltmeisterschaften gewonnen hat. Die andere Gestalt ist in Wirklichkeit ein Dämon, der seine Spinnengestalt nur jenen zeigt, die sich in seinem tödlichen Netz verfangen. Im Gemälde verkörpert der Dämon «Alpha Go», ein KI-Programm, das 2016 vier von fünf Go-Spielen gegen Sedol gewann.
Notfalls frage ich ChatGPT
Dieses Ereignis markierte einen Wendepunkt in der Entwicklung und Wahrnehmung künstlicher Intelligenz. Das Go-Brett bietet mit 19 mal 19 Feldern viel mehr mögliche Züge und Spielsituationen als ein Schachbrett (8×8) und erfordert ein hohes Mass an Intuition – eine Fähigkeit, die sich nur schwer auf Maschinen übertragen lässt. Der Sieg von Alpha-Go hat gezeigt, dass künstliche Intelligenz in der Lage ist, Aufgaben zu lösen, die bisher für Computer als unlösbar galten.
War KI damals für die meisten nur ein abstrakter Begriff, ist sie heute in der breiten Bevölkerung angekommen. Auch bei mir als Journalist. Ich benutze ChatGPT regelmässig, um mir einen groben Überblick über Themen zu verschaffen, um Stil- oder Rechtschreibfehler zu finden oder Sprachbilder zu entdecken. Als Sparringspartner hilft mir das Sprachmodell, aber es kann meine Arbeit nicht ersetzen. Das Programm erfindet Sätze aus dem Nichts. Seine Textvorschläge sind selten brauchbar. Und ich halte meine Ideen für journalistische Beiträge immer noch für origineller als die von ChatGPT.
Doch die Technologie entwickelt sich unvorstellbar schnell. Zum Verständnis könnte die Reiskornanalogie helfen. Angenommen, auf ein Schachbrett wird auf das erste Feld ein Reiskorn gelegt, auf das nächste zwei, dann vier – und auf jedes weitere Feld die jeweils doppelte Menge. Bis einschliesslich zum 32. Feld liegen dann rund 4,3 Milliarden Körner auf dem Schachbrett. Doch bis zum letzten Feld (64) explodiert die Menge auf über 18 Trillionen Körner, mehr als jemals geerntet werden könnten. Künstliche Intelligenz ist auf der zweiten Hälfte des Schachbretts angekommen. Sprachmodelle, die noch vor wenigen Jahren mit Milliarden von Parametern trainiert werden mussten, sind heute Standard. Aus wenigen Sprachbefehlen generiert KI-basierte Software in Minutenschnelle hochwertige Videos, Songs oder Podcasts.
Die Geschwindigkeit, mit der künstliche Intelligenz Fortschritte macht, erinnert mich an den Spinnendämon aus Grays Gemälde: verführerisch, aber auch unberechenbar. Ihr Nutzen wird – zumindest für mich – durch die Ungewissheit überschattet – welche journalistischen Aufgaben mir am Ende noch bleiben. Wie lasse ich mich auf KI ein, ohne mich ihr auf lange Sicht unterzuordnen? Darauf weiss ich keine Antwort. Höchstens, dass ich wachsam bleiben und auf alles gefasst sein muss. Und wenn gar nichts mehr hilft, kann ich immer noch ChatGPT fragen.
Hinweis
Für diese Serie suchen wir uns ein für uns bedeutendes Bild aus, das in irgendeiner Weise mit Zug in Verbindung steht.
(Text: Felix Ertle)