Der Klang von 650 Jahren
Brauchtum & Geschichte
Die kleine Glocke im Turm des alten Steinhauser Beinhauses hat nicht immer dort gehangen. Sie ist ein sichtbares Zeugnis mittelalterlichen Handwerkes – und die älteste Glocke ihrer Art im Kanton Zug.
Steinhausen – Wir hören sie viel öfter, als wir sie sehen, und sie sind seit vielen Jahrhunderten fester Bestandteil des Alltags: Die Geschichte der Kirchenglocken im Christentum beginnt in etwa im 4. Jahrhundert, im Mittelalter wurden sie schliesslich zentral für das tägliche kirchliche Geschehen.
In unseren Breitengraden verbergen sich Kirchenglocken meist hinter den Schallöffnungen der Kirchtürme. In einigen Fällen jedoch hängen sie auch frei sichtbar, beispielsweise in den offenen Dachreitern kleinerer Kapellen oder bei modernen Kirchenbauten als gestalterische Komponenten. Solches finden wir im Kanton Zug etwa bei der reformierten Kirche in Walchwil oder am Zentrum Chilematt in Steinhausen, wo ein 13-stimmiges Glockenspiel an der Fassade zum architektonischen Konzept gehört.
Gerade mal ein paar Meter weiter auf der anderen Seite des Platzes vor dem Zentrum Chilematt zeigt sich uns eine weitere Glocke ganz unverhüllt: diejenige im Dachreiter des Beinhauses Unserer Lieben Frau direkt neben der Matthiaskirche. Sie ist eine kleine Besonderheit innerhalb des Zuger Glockeninventars, gehört sie doch mit ihrer Entstehungszeit vor 1400 zu den ältesten Kirchenglocken, die noch in Betrieb sind. Den Rekord hierbei hält die sogenannte Zuckerhutglocke in der Schlosskapelle St. Andreas in Cham aus dem frühen 13. Jahrhundert.
Er siegt, herrscht und befiehlt
Das Glöcklein im Steinhauser Beinhaus jedoch führt ebenfalls einen Rekord an: Es ist das älteste Beispiel einer Glocke mit Majuskel-Inschrift im Kanton – weitere Exemplare dieses Typs existieren in Niederwil, Zug und Baar. So führt es der Zuger Kunsthistoriker Josef Grünenfelder in einer aufwendig erarbeiteten und sorgfältig recherchierten Dokumentation über die Kirchenglocken im Kanton Zug aus, erschienen im Jahr 2000.
Inschriften in Majuskeln, also Grossbuchstaben, finden sich vor allem auf mittelalterlichen Glocken. Diejenige auf dem Hals des Steinhauser Beinhausglöckchens ist in romanisierenden Lettern ausgeführt und liest sich XPC VINCIT + XPC REGNAT + XPC IMPERAT, wobei XPC die griechische Kurzform von «Christus» ist. Somit lauten die Worte übersetzt: «Christus siegt, Christus herrscht, Christus befiehlt.»
Die uralte Glocke hat nicht immer hier gehangen, zumal die einstige Friedhofkapelle in Steinhausen erst 1611 errichtet worden ist. Bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts hing im Dachreiter ein Glöckchen mit Giessjahr 1607 und der Inschrift «Gloria in excelsis Deo». Da ihr Klang jedoch recht unsauber war, hängte man sie 1876 ab und übergab sie dem Zürcher Glockengiesser Jakob Keller zum Einschmelzen.
Auf Initiative des Steinhauser Pfarrers Josef Anton Speck (1847–1911) wurde die nun fehlende Beinhausglocke durch die kleinste, hier ins Zentrum des Interesses gerückte Glocke aus dem Turm der Pfarrkirche ersetzt. Sie hat einen Durchmesser von 40 Zentimetern und ist einzig mit der erwähnten Majuskel-Inschrift geziert. Sie ist schön geformt und verfügt über sechs Kronenhenkel, mit denen sie am Holzjoch befestigt ist. Mehrere Lädierungen am Rand des sogenannten Schlagringes zeugen vom hohen Alter der Glocke und lassen vermuten, dass sie viel zu erzählen hätte, könnte sie denn sprechen.
Welcher Meister des 14. Jahrhunderts die Steinhauser Beinhausglocke gegossen hat, liegt im Dunkeln, denn das früheste Zeugnis eines Zuger Glockengiesser-Handwerks – drei Glocken in der Bremgarter Stadtkirche – datiert um 1515. Es lohnt sich also, dem kleinen Glöckchen im Turm des alten Steinhauser Totenkapellchens beim Vorbeigehen etwas Beachtung zu schenken. Es verrichtet seine Aufgabe seit rund 650 Jahren – für das menschliche Zeitgefühl eine halbe Ewigkeit. (Text von Andreas Faessler)