Die Zytturm-Zeitkapsel überrascht

Kunst & Baukultur, Brauchtum & Geschichte

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Ein 339 Jahre altes Dokument könnte bestehende Lücken in der Stadtgeschichte schliessen.

Zug – Am Mittwochmorgen um 8 Uhr steht Werner Lippuner vor einem langen Tisch in seiner Spenglerei. Vor ihm liegen eine geöffnete Goldkugel und Artefakte aus den vergangenen Jahrhunderten. Es sind Gegenstände, die über 70 Jahre lang in der Kugel oben auf dem Zytturm verschlossen waren. «Solche Zeitkapseln sind auf Kirchtürmen üblich», sagt der Zuger Spengler.

Lippuner hat sie am Vortag vorsichtig von der Turmspitze abgeschraubt – und in seine Werkstatt gebracht. Denn der Zytturm wird umfassend saniert. Lippuner wird die Spitze restaurieren und vergolden lassen. Doch zuvor enthüllt er zusammen mit Vertretern der Stadt und einigen Anwohnern den Inhalt der Zeitkapsel.

Aus einem kleinen Kupferrohr zieht Lippuner zwei zusammengerollte Fotos: Bilder vom Zytturm um 1953 – natürlich in Schwarz-Weiss. Aus einem anderen Rohr zieht er eine Urkunde. Sie enthält unter anderem Informationen über damalige Bauprojekte wie das Schulhaus Guthirt oder eine geplante Abwasserreinigungsanlage. Für Stadtpräsident André Wicki wie für die meisten Anwesenden ist es die erste Zeitkapsel, deren Öffnung sie miterleben dürfen. «Das ist wie eine Zeitreise», sagt Wicki.

Schriftstück von 1685 könnte neue Erkenntnisse liefern

Lippuner entpackt weitere Dokumente, die allesamt vom ehemaligen Stadtbibliothekar von Zug, Christian Raschle, begutachtet werden. Der Historiker erzählt, dass er erst heute Morgen in der Spenglerei von der Zeitkapsel erfahren hat. «Mein Sohn (Stadtrat Urs Raschle) meinte nur, ich soll mir den Tag freihalten. Dann hat er mir die Adresse geschickt», sagt er vergnügt.

Besonders fasziniert ist Christian Raschle von einer vergilbten Urkunde aus dem 17. Jahrhundert. «Aus diesem Dokument geht hervor, dass es 1685 eine Restaurierung des Zytturms gegeben haben könnte», erklärt er. «Soweit ich die Geschichte des Zytturms überblicken kann, haben wir das Jahr 1685 bisher nicht als besonderes Datum erwähnt.» Das Dokument könnte ein Hinweis darauf sein, dass damals eine grössere Renovation stattgefunden hat. Ob es tatsächlich die Zuger Stadtgeschichte bereichern kann, müssten weitere Untersuchungen zeigen.

In den nächsten dreissig Minuten entdeckt Lippuner noch Angaben zu Lebensmittelpreisen aus den letzten zwei Jahrhunderten und eine Ausgabe der Neuen Zuger Zeitung aus dem Jahr 1863 – heute als Zuger Zeitung bekannt.

Schliesslich öffnet der Spengler Werner Lippuner die kleinen grauen Schachteln, die sich auf dem Tisch befinden. Darin befinden sich neben anderen Dokumenten auch Münzen: Eine Festmünze, die laut Christian Raschle heute einen vierstelligen Betrag wert sein könnte, sowie Franken- und Rappenstücke aus dem Jahr 1952. «Die glänzen richtig, weil sie damals aus Silber waren», erklärt der Historiker.

Schwiegersohn des ehemaligen Kapselfüllers ist dabei

Befüllt wurde die Kapsel damals von Hans Koch, dem damaligen Stadtbibliothekar. Sein Schwiegersohn Georges Raemy ist bei diesem historischen Ereignis ebenfalls anwesend.

Für Raemy ist es nicht verwunderlich, dass Koch die Ehre zuteil wurde, die Artefakte für die Nachwelt zusammenzustellen. Er sagt: «Mein Schwiegervater war Geschichtslehrer und Stadtbibliothekar. Er hat Bücher über die Sagen und Legenden von Zug geschrieben und wöchentlich historische Artikel veröffentlicht.» Koch habe Raemy einmal gesagt: «Wenn die Zeitkapsel einmal geöffnet wird, musst du dabei sein.» Und weiter: «Jetzt habe ich es tatsächlich erlebt.»

Inzwischen ist es kurz vor 10 Uhr. Auf die Frage, wie es mit den Artefakten weitergeht, antwortet Urs Raschle, Stadtrat und Leiter des Finanzdepartements: «Die müssen rasch ins Stadtarchiv. Dort werden sie untersucht. Es wäre interessant, sie der Öffentlichkeit zu zeigen, aber in welcher Form, wissen wir noch nicht. In rund einem Monat soll die Kapsel wieder auf dem Zytturm thronen. Doch was soll dieses Mal hineingelegt werden? Aus dem Raum ruft jemand «Bitcoins».

Urs Raschle erklärt abschliessend: «Wir werden uns noch beraten, welche Inhalte wir wählen, um in 100 Jahren wieder einen ähnlichen Aha-Effekt zu erzielen.» Er habe nicht damit gerechnet, dass die Zeitkapsel so umfassend gefüllt sein würde. (Text: Felix Ertle)