Eine Frau – ganz ihrer Zeit voraus
Brauchtum & Geschichte
Am 17. Februar 2025 hat sich der Todestag der unikalen Dichterin Isabelle Kaiser zum 100. Mal gejährt. Sie hinterliess auch und gerade in Zug unaustilgbare Spuren – zum Exempel im Text auf dem Gedenkstein bei der Schiffsanlegestelle Zug-Bahnhof.
Zug – Zur Einstimmung und Erinnerung geben wir den Text am Stein hier wieder:
«Den 5. Juli 1887 versank hier die äussere Vorstadt, 11 Personen fanden ihr Grab im See, 35 Gebäude wurden zerstört, 600 Menschen obdachlos.
Wanderer im Morgenschein,
Grüsse diesen Felsenstein!
Soll ein Ehrendenkmal sein!
Menschen starben in der Flut,
Glück in Scherben, Heim u. Gut – Doch es leuchtet nah u. fern ...
Höher noch wie Fels u. Stern,
Still empor zu Gottes Rat
Ragt der Eidgenossen That!
Erde weichen, Sonn’ und Licht,
Doch die Bruderliebe nicht.»
Die singuläre zweisprachige Dichterin Isabelle Kaiser, die aussergewöhnlichste Erscheinung unter den Zuger Literatinnen aus altem Zuger Geschlecht, geboren 1866 in Beckenried, im 3. Lebensjahr mit der Familie nach Genf übersiedelt, französisch erzogen – sogar mit musikalischem wie musischem Unterricht –, zog mit Vater Fernando, Gründer der «La Suisse», dem Pendant zur «NZZ», Mutter Wilhelmina Durrer und Geschwistern nach Zug an die Artherstrasse. Es war der Stammsitz der Familie, wo sie nahezu zwanzig Jahre bis zum Domizilwechsel erneut nach Beckenried in ihr Eigenheim «Ermitage», lebte und wirkte.
Wohl verfasste sie ihre ersten Gedichte noch auf Französisch, entdeckte dann aber in der idyllischen Zuger Umgebung ihre Liebe zu Natur und Dichtung und schrieb in einer Skizze der Zeitschrift «Jugendzeit» auf Deutsch, unter anderem: «Mein Zug! Du warst mein Jugendparadies, versunkenes Eiland, daraus die seligsten Erinnerungen wie Vinetaglocken, mir aus der Tiefe der Vergangenheit überallhin nachklingen! Du, meines Vaters Stadt, deren Banner, weiss wie der Schnee deiner Firnen, und blau wie die Flut deines Sees, über die gothischen Türme deiner Schutzwälle weht!»
Eine gefeierte Berühmtheit
Bereits als 18-Jährige errang Isabelle Kaiser unter 97 Konkurrenten in einem Preisausschreiben in Bordeaux für die Erzählung «Gloria victis» den 2. Preis. Später erhielt sie Ehrendiplome in weiteren französischen Wettbewerben, die Mitgliedschaft in Akademien, und einen 1. Preis im Concours littéraire de la France für das Gedicht «l’ombre». Für ihren 1. Roman «Coeur de femme» – auf Deutsch «Rahels Liebe» – wurde sie zusammen mit ihrem Literaturprofessor in Genf mit dem 1. Preis für den besten Roman der Schweiz ausgezeichnet, und 1911 empfing sie die höchste literarische Auszeichnung der Schweiz, den Schillerpreis – eine gefeierte Berühmtheit!
Abwechselnd auf Deutsch und Französisch verfasste sie Romane, Gedichte, Novellen. Ihre gesamte Epik trägt den Stempel ihrer Individualität; die mannigfachen Gestalten reden letztlich die Herzenssprache der Dichterin. Von ihr gilt, was Kleist in folgende Worte gekleidet hat: «Die Erscheinung, die am meisten bei der Betrachtung eines Kunstwerkes rührt, ist nicht das Werk selbst, sondern die Eigentümlichkeit des Geistes, der es hervorbrachte und der sich in unbewusster Freiheit und Lieblichkeit darin entfaltet!»
Hierzu noch ein Beispiel eines Gedichtes: «Ich komm’ aus weiten Fernen – woher? Ich weiss es nicht. In meinen Augensternen erglüht weltfremdes Licht. Ich lebe stille Tage – wozu? Sie ziehn wie eine Klage durch einen öden Raum. Ich geh’ zu fernen Weiten – wohin? O wüsst’ ich’s nur. Es ist ein schmerzlich Gleiten auf windverwehter Spur.» Alles, was die Sinne wahrnehmen und den Geist berührt, vermag Isabelle Kaiser sogleich in Poesie zu verwandeln. Ihre Verse von makelloser Schönheit zählen zu den lyrischen Höhepunkten zugerischen Schrifttums.
Nicht von ungefähr zählten Geistesgrössen wie Adolf Frey, Jakob Heer und Heinrich Federer zu ihrem Freundeskreis – doch die Krone gebührte Carl Spitteler, dem einzigen Schweizer Literaturnobelpreisträger, welcher Isabelle Kaiser geradezu ekstatisch verehrt: «Die ganze Isabelle ist eben ein Phänomen, in jeder Beziehung: Eine faszinierende Persönlichkeit, der Reichtum ihrer Talente, der heldenstarke Charakter, der weltumspannende, elastische Geist, ihr grosses, gutes Herz, die siegreiche, stündlich überströmende, alle Sorgen und Plagen des Alltags wegschwemmende Seele!»
«Hohepriesterin der Dichtkunst»
Zeit ihres Lebens erfreute sich die originellste Gestalt der Zuger Literatur einer ungewöhnlichen Wertschätzung in der Schweiz, in Deutschland und Frankreich, ja, sie hielt Vorlesungen bis an den königlichen Hof Belgiens. Die aussergewöhnliche Ausstrahlungskraft der Individualität ihrer Persönlichkeit – sogar als «Hohepriesterin der Dichtkunst» gepriesen – verdankt sich nicht zuletzt ihrem schauspielerischen Talent, ihrer Fähigkeit, eine Hörgemeinde von bis zu 600 Personen mit ihrer Deklamationskunst zu Andacht zu rühren.
Die früh Tuberkulosekranke, gleichwohl Weitgereiste flüchtete sich in eine Welt verspäteter Romantik – verklärt, exzentrisch, melancholisch und pflegte auch in ihrer Erscheinung einen persönlichen Stil, gekennzeichnet durch ihre weissen, wallenden Gewänder, schwarze, lange, offen getragene Haare, dunkle Augen göttlichen Feuers, dunkeltimbrierte Stimme – eine Gestalt, die auch in ihrem geistigen Habitus wie die Überlebende einer versunkenen Epoche anmutet. Am 17. Februar 1925 brach Isabelle Kaiser in jenes unbekannte Land auf, wie sie schreibt, «aus dess’ Bezirk kein Wanderer wiederkehrt».
(Text: Jürg Johner)