Poetry-Slam trifft Sozialpädagogik
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Wortakrobatik und Sozialpädagogik gehen perfekt Hand in Hand. Dies bewies die Zuger Stiftung Phönix am 1. Mai im Kino Seehof. Auf der Bühne waren unter anderem Olivia Vera, Jan Rutishauser und Patrick Frey zu sehen.
Zug – Dass ein amtierender Kantonsrat einen Poetry-Slam-Abend moderiert, ist nicht alltäglich. Wenn man jedoch mit Andy Iten spricht, merkt man schnell, dass Poetry-Slam und Politik durchaus kompatibel sind. «Durch den Poetry-Slam sowie das Schreiben bin ich immer politischer geworden», erklärt Iten, der für die ALG im Kantonsrat sitzt.
Mitorganisatorin des Abends im Kino Seehof war die Stiftung Phönix Zug, die sich für Menschen mit psychischen Behinderungen einsetzt und bei der Andy Iten als Sozialpädagoge tätig ist. Carole Leuenberger, Geschäftsleiterin der Stiftung, orientierte darüber, dass an den letzten drei öffentlichen Jahresveranstaltungen Filme gezeigt worden seien und jetzt mit Poetry-Slam eine neue Kunstform erprobt werde: «Der Anlass soll zu einer Entstigmatisierung von psychisch beeinträchtigten Menschen beitragen», umschreibt Leuenberger das Ziel des Abends.
Texte von heiter bis traurig
Pro Slam-Poet wurden an diesem Abend zwei Texte zum Besten gegeben. Andy Iten gab zwischen den Einlagen einen Abriss über die Geschichte vom Poetry-Slam, die Ende des 20. Jahrhunderts in Chicago ihren Anfang nahm. Er startete den Reigen gleich mit einem eigenen Text, in welchem er Vereinsamung als Folge von stetig steigender Informationsflut und Fake News anprangerte.Olivia Vera hat sich über das Texten in Freundschafts- und Tagebüchern zur schweizweit bekannten Slam-Poetin entwickelt. In «Hundert Jahre sind ganz schön viel» schildert sie, welchen Wandel der Welt ein vor hundert Jahren geborener Mensch miterleben durfte oder musste. Jan Rutishauser, mehrfach preisgekrönter Kabarettist, nimmt zuerst mit wohlwollendem Humor die mangelnde Risikofreudigkeit des Schweizervolks ins Visier, um gleich nachzudoppeln, dass die Schweizer keine Träumer sind. Dies jedoch nicht etwa, weil sie keine Fantasie haben, sondern weil sie ihre Träume bereits leben.
Dann ist Debora Baumgartner an der Reihe. Sie ist Präsidentin des Zuger Vereins Zebrafant, der sich als «Selbsthilfegruppe für Freunde der Slam-Poetry» versteht. Sie thematisiert die Befindlichkeit von Eltern, wenn die Kinder ins Sommerlager gehen. Zuerst kommen Erleichterung und Partylaune auf, die sich jedoch bald in ein Gefühl von Verlassenheit und Sehnsucht wandeln.
Im zweiten Text geht es ums Leben mit einem ADS-Kind, bei dem sich die Mutter in einem kaum zu kontrollierenden Schnellzug und in einer Achterbahn der Gefühle wähnt.
Nicht nur eine Kunstform für Jungpoeten
Als wahrer Leckerbissen an diesem Abend entpuppt sich die Darbietung des 75-jährigen Autors und Verlegers Patrick Frey, der sich als Sprachvirtuose der Spitzenklasse erweist. So offenbart er einen Austausch, den er als Moderator einer nächtlichen Radio-Talkshow mit der an Glasknochenkrankheit leidenden Carole Piguet hatte. Die exzentrische Schauspielerin zeichnete sich durch Leidensfähigkeit gepaart mit Grossherzigkeit aus und weigerte sich standhaft, sich an den Rand der Gesellschaft drängen und als «Krüppel» stigmatisieren zu lassen.
In einem zweiten Text nimmt der Kabarettist die Auswüchse der Woke-Bewegung aufs Korn. Unter anderem aus der Sicht einer fiktiven Tierorganisation, welche die Verunglimpfung von Tieren in der Alltagssprache mit Begriffen wie «blöde Gans», «Schluckspecht» und «affengeil» verbieten möchte. Das Publikum krümmt sich bei dieser Einlage fast vor Lachen und spendet den Slam-Poeten am Ende des Abends tosenden Beifall. (Text von Ingrid Hieronymi)