Ein musikalischer Adlerflug voll menschlicher Wärme
Musik
Das Nationale Sinfonieorchester der Ukraine (NSOU) arbeitet seit einem Jahr mit der deutschen Starcellistin Raphaela Gromes zusammen. Und feierte die Derniere der gemeinsamen Europatournee im Theater Casino Zug.
Zug – «Klangwunder aus der Ukraine» versprach das Theater Casino Zug im Rahmen seiner Klassikkonzerte für Ende November. Das in Kiew beheimatete «National Symphony Orchestra of Ukraine» – vorher bekannt als «Kiew State Symphony Orchestra» – ist einer der renommiertesten Klangkörper Osteuropas und wird von dem erfahrenen, mehrfach preisgekrönten Dirigenten Volodymyr Sirenko geleitet. Auf der Website des Orchesters steht unter dem Orchestertitel die Zeile «Listen to Eternity». Der Ewigkeit zuhören – das ist höchster künstlerischer Anspruch.
Als weiteres Highlight des Konzertabends war die Cellistin Raphaela Gromes mit dem beliebtesten aller Cellokonzerte angesagt – demjenigen von Antonín Dvořák in h-Moll op. 104. Wer die Solistin zu würdigen versucht, überschlägt sich in Superlativen: «Hochvirtuos und schwungvoll, leidenschaftlich und technisch brillant» sei ihre Kunst; mit einem «gleichzeitig anspruchsvollen als auch leichtfüssigen Spiel» ziehe sie ihr Publikum stets in den Bann. Im Einführungsgespräch mit Musikkurator Martin Wettstein erfuhr man zudem, dass Gromes ein spezielles Instrument spiele: ein Violoncello aus dem Jahre 1740 von Carlo Bergonzi – einem Schüler Stradivaris –, von dem es auf dem Globus nur drei Exemplare gebe.
Glanz und existenzieller Ausdruck
Dies alles verhiess aussergewöhnlichen musikalischen Glanz. Und so war der Konzertabend auch – ein künstlerischer Adlerflug. Vor Dvořák erklangen die «Alten Bergtänze von Verkhovyna» des ukrainischen Komponisten Yevhen Stankovych – eine Entdeckung. Und nach der Pause bewies das Orchester seine überragende Meisterschaft noch einmal mit Jean Sibelius’ Sinfonie Nr. 3 op. 52.
Es ging bei dieser Darbietung jedoch um mehr und Existenzielleres: Als Derniere der gemeinsamen Europatournee 2024 bildete das Konzert auch den Abschluss der einjährigen Zusammenarbeit zwischen Orchester und Cellistin. Diese hatte vor Weihnachten 2023 unter besonderen Umständen begonnen: dass die Ukraine im Krieg ist und ums Überleben kämpft. Und dass Raphaela Gromes sich künstlerisch und menschlich davon berühren liess, ja daran teilhaben wollte.
In einem Porträt im Klassikmagazin Fono Forum beschreibt sie es selbst: Wie sie an Friedensdemos mit Ukrainern und Ukrainerinnen in Kontakt kam; wie sie dem NSOU anbot, gemeinsam zu musizieren, «einfach aus Solidarität». Wie das erste Konzert in Kiew zustande kam und sie zusammen in SOS-Kinderdörfern spielten. Von der Herzlichkeit und Dankbarkeit der Menschen unter der ständigen Gefahr fallender russischer Bomben. Von der ersten gemeinsamen Aufnahme in Polen. Wie einzelne Musiker an die Front ausrücken mussten und von den Schwierigkeiten, für die Tournee ausreisen zu dürfen. Von anfänglicher und dann sinkender Zuversicht erzählt sie, und wie sich das alles auf das Musizieren auswirkte: «Diese Verzweiflung, der Schmerz, aber auch die Hoffnung, dies alles floss quasi ungefiltert in die Musik hinein und führt, glaube ich, tatsächlich zu einer noch ausdrucksvolleren Aufnahme, ganz besonders natürlich beim ‹Prayer for the Ukraine› von Valentin Silvestrov und Hanna Havrylets’ ‹Tropar›. Das waren unglaubliche Augenblicke, da haben viele geweint, als wir das gespielt haben.»
Musik im Krieg
Auch das Zuger Publikum – unter dem sich viele ukrainische Menschen befanden – vergoss Tränen bei den beiden Stücken, die als Zugabe gespielt wurden: Silvestrovs «Gebet für die Ukraine» und Havrylets’ «Gebet zur Mutter Gottes». Die ukrainische Komponistin Havrylets starb übrigens, schwer krank, am vierten Tag des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, weil kampfbedingt die ärztliche Versorgung ausgefallen war.
Menschliche Nähe durchzog die künstlerische Perfektion des Konzerts wie ein goldener Faden – sozusagen verkörpert im vibrierenden, ungeheuer obertonreichen und warmen Klang des Bergonzi-Cellos. Unter stehendem Applaus umarmte Raphaela Gromes, die ihren Dvořák brillant wie eine Fürstin und gespenstisch wie ein Kobold gespielt hatte, die Stimmführer und -führerinnen des Orchesters. (Text von Dorotea Bitterli)