Ein Kunstschmied auf der Flucht

Varios

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Ein Ägerer wird Ordensbruder im Kloster Einsiedeln. Der Obrigkeit bereitet er wiederholt Kummer und endet recht unrühmlich in der Fremde. Ein herausragendes Kunstwerk in der Klosterkirche erinnert an ihn.

  • Das perspektivische Chorgitter in der Klosterkirche von Einsiedeln wurde von Pater Vinzenz Nussbaumer aus Oberägeri über zehn Jahre hinweg angefertigt. Es ist ein bedeutendes Beispiel barocker Schmiedekunst. (Bild P. Bruno Greis, © Kloster Einsiedeln)
    Das perspektivische Chorgitter in der Klosterkirche von Einsiedeln wurde von Pater Vinzenz Nussbaumer aus Oberägeri über zehn Jahre hinweg angefertigt. Es ist ein bedeutendes Beispiel barocker Schmiedekunst. (Bild P. Bruno Greis, © Kloster Einsiedeln)

Oberägeri – Wir kennen die Klosterkirche Einsiedeln als einen der spektakulärsten Barockbauten nördlich der Alpen. Die geballte Pracht aus Barock, Rokoko und Klassizismus in diesem einzigartigen Gotteshaus zieht selbst den grössten Ästhetikmuffel schlagartig in den Bann. Und wenn man irgendwann hinter dem Oktogon glaubt, es gebe an Überfluss und optischen Reizen keine Steigerung mehr, so steht man bald vor dem grossen Chorgitter und muss sich bei seinem Anblick erst mal staunend zurechtfinden. Es ist ein Meisterstück des Schmiedehandwerks, entstanden von 1675 bis 1685. Das filigran verarbeitete Gitter umfasst drei Portale, mittig ein grosses, flankiert von je einem kleineren. Diese Portale sind perspektivisch, heisst die Verstrebungen und Felder verlaufen verjüngend, sodass eine beeindruckende Tiefenwirkung entsteht und dem Betrachter suggeriert, dass der gesamte Kirchenraum noch länger scheint, als er ohnehin schon ist. Es ist an sich ein plastisches Trompe-l’oeil, das den Raum mit einfachen Mitteln illusionistisch vergrössert – ein typisches Stilmerkmal der Barockarchitektur.

Dieses Paradestück der Schmiedekunst ist das Werk eines Zugers. Und dessen Biografie ist – bewusst überspitzt ausgedrückt – fast noch spektakulärer als das Einsiedler Chorgitter. Zumindest erweckt der entsprechende Eintrag im Einsiedler Professbuch diesen Eindruck. Zuweilen kann man sich eines Schmunzelns nicht erwehren beim bildlichen Nachvollzug von Nussbaumers fragwürdiger Klosterkarriere, welche von Widerspenstigkeit, Flucht, Ungehorsam und gar Betrug gesäumt ist.

Geboren wurde Vinzenz Nussbaumer gemäss Eintrag am 3. Februar 1644 auf dem Oberägerer Heimet Waldschlag am Fusse des St.-Jost-Rains. Er erlernte den Beruf des Kunstschlossers, trat darauf als Laienbruder ins Kloster Einsiedeln ein – Ende Mai 1669 legte er hier sein Ordensgelübde ab. Als Schmied zeichnete Bruder Vinzenz für diverse Kunstwerke im und ums Kloster verantwortlich, unter anderem für den Strahlenkranz der Muttergottes auf dem Marienbrunnen. Das einzigartige Chorgitter war jedoch sein Hauptwerk. Es entstand durch seine Hand in der klostereigenen Werkstatt in zehnjähriger Arbeit. Bruder Vinzenz scheint gesundheitlich mehrfach angeschlagen gewesen zu sein. Die Aufzeichnungen weisen auf wiederholte Kuraufenthalte in Bad Pfäfers hin sowie auf eine Rekonvaleszenz in Muri wegen eines «Bruchleidens». Der Zuger wurde mehrfach zu Neuhängungen von Kirchenglocken im Luzernischen und im Aar­gauischen herangezogen.

Offenbar wurde Bruder Vinzenz in Einsiedeln gemobbt – ob von seinen Mitbrüdern oder von der Obrigkeit, ist unklar. Jedenfalls weigerte sich der Zuger, am Ende einer Geschäftsreise nach Zürich im Juni 1692 von da ins Kloster Einsiedeln zurückzukehren – wegen «widerfahrenen Kränkungen», so teilte er einem Mitbruder schriftlich mit. Nussbaumer ging zu Stiftsammann Billeter nach Männedorf. Der Einsiedler Dekan besuchte den Abtrünnigen und überredete ihn erfolgreich, wieder ins heimische Kloster zurückzukehren. Es hielt ihn aber bloss eine Nacht in Einsiedeln – bereits am folgenden Morgen floh Vinzenz Nussbaumer aus nicht überlieferten Gründen wieder Hals über Kopf nach Männedorf. Weder der Statthalter von Pfäffikon noch Bruder Bonaventura vom Kloster Fahr konnten den Geflohenen zur erneuten Heimkehr bewegen. Bruder Bonaventura wandte sich sorgenvoll an den Einsiedler Abt. Dieser war bereit, Bruder Vinzenz in einem anderen Kloster unterbringen zu lassen. Als Bonaventura und der Dekan gemeinsam nach Männedorf gingen, um dies dem Geflohenen zu berichten, hatte dieser sich schon wieder aus dem Staub gemacht und sich beim protestantischen Prediger von Männedorf versteckt. Als es die beiden am Folgetag nochmals versuchten, war Bruder Vinzenz bereits wieder nach Zürich gegangen und hatte bei Bürgermeister Johann Caspar Escher Zuflucht gesucht. Dieser konnte den «Verirrten» schliesslich zur Vernunft bringen und ihn dazu bewegen, nach Einsiedeln zurückzukehren. Als Strafe für seine Fisimatenten hatte er zehn Tage lang Exerzitien auszuüben.

Vinzenz aber sollte dem Klostervorstand weiter Kummer bereiten. Als er im Oktober 1693 die Erlaubnis erhielt, seine Heimat Ägeri zu besuchen, ging er unerlaubt wieder nach Zürich. Vinzenz war uneinsichtig und wurde zur Strafe eingesperrt. Nach seiner Freilassung untersagte man ihm sein Wirken in der Klosterschmiede und verwies ihn auf den hintersten Platz im Reigen seiner Ordensbrüder. Im folgenden Frühling platzte Vinzenz der Kragen. Eines frühen Morgens büxte er erneut aus. Sein Ziel: abermals Zürich. Hier entledigte er sich seiner Kutte und sprach sich somit eigenmächtig vom Klosterleben los. Er fasste den Entschluss, nach Ungarn zu gehen, bettelte sich Geld zusammen und gelangte nach Wien. Im Schottenkloster an der Freyung besorgte der Zuger eine Neuhängung der Glocken. Als er darauf von Landsleuten erkannt worden war, floh er nach Nussdorf an der Donau, damals noch ein Vorort Wiens. Hier fand er Unterschlupf bei einem Schlosser.

Bald jedoch war Nussbaumer nicht mehr arbeitsfähig, weil eine Infektionskrankheit, an der er schon seit längerem gelitten hatte, fortgeschritten war. Um der Arbeitslosigkeit und somit dem sicheren persönlichen Untergang zu entgehen, gab sich der Zuger als Augenarzt (!) aus. Das ging aber nicht lange gut. Bald flog er auf und wurde als Betrüger angeklagt und bestraft. Vinzenz Nussbaumer floh darauf den Aufzeichnungen zufolge nach Ungarn, wo er im März 1697 starb. Somit nahm die bewegte Lebensgeschichte des gebürtigen Zugers ein eher unrühmliches Ende fern der Heimat. Das prächtige Chorgitter in der Klosterkirche Einsiedeln bleibt der Nachwelt als stummes Erinnerungsstück an Bruder Vinzenz Nussbaumer aus Oberägeri erhalten. (Andreas Faessler)

Hinweis
Mit «Hingeschaut!» gehen wir Details mit kulturellem Hintergrund und Zuger Bezug nach. Frühere Beiträge finden Sie online unter www.zugerzeitung.ch/hingeschaut.