Ein Musiker von Weltformat darf in Zug liegen bleiben

Brauchtum & Geschichte, Musik

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Die Grabstätte von Paul Grümmer auf dem Friedhof St.Michael ist als erhaltenswert eingestuft worden. Sicher zu Recht: Der hier Bestattete gehörte zu den besten Instrumentalisten seiner Zeit. Das Grab erzählt auch die Geschichte von zwei schweren Schicksalsschlägen.

  • Hier ruht ein prominenter Musiker: Das Grabmal von Paul Grümmer auf dem Friedhof St. Michael in Zug ist seit Dezember 2023 als erhaltenswert eingestuft. Bild: Andreas Faessler (20. 6. 2024)
    Hier ruht ein prominenter Musiker: Das Grabmal von Paul Grümmer auf dem Friedhof St. Michael in Zug ist seit Dezember 2023 als erhaltenswert eingestuft. Bild: Andreas Faessler (20. 6. 2024)
  • Sylvia Grümmer in ihrer Wohnung in Oberwil im Dezember 1992.
    Sylvia Grümmer in ihrer Wohnung in Oberwil im Dezember 1992.
  • Paul Grümmer auf einer Aufnahme von 1959 mit einer Gambe hinter ihm an der Wand. Bild: ullstein/Getty Images
    Paul Grümmer auf einer Aufnahme von 1959 mit einer Gambe hinter ihm an der Wand. Bild: ullstein/Getty Images

Zug – Auf den ersten Blick ist die Grabstätte nicht sonderlich auffällig: ein rötlicher, längsrechteckiger Stein auf Sockel hinter einer schlicht begrünten Fläche. Schliesslich aber wird man aufmerksam auf das Relief im Stein – ein Streichinstrument mit sechs Saiten. Rechts davon Notenlinien mit einem F-Schlüssel. Beim Instrument handelt es sich um eine Viola da Gamba. Diese steht in enger Verbindung mit dem in den Notenzeilen herausgearbeiteten Namen: Es ist die letzte Ruhestätte von Paul Grümmer, Gambist und Cellist. Der Schriftzug orientiert sich an der persönlichen Signatur des Verblichenen.

Im November 2023 ist der Mietvertrag für den Grabplatz ausgelaufen. Auf Ansuchen der Nachkommen Paul Grümmers hat die Stadt Zug, respektive die Friedhofskommission, im Dezember entschieden, die Familiengrabstätte als erhaltenswert einzustufen und somit fortan für deren Unterhalt und Pflege aufzukommen. Die Begründung für diesen Entscheid liegt in der Biografie des auf den Notenlinien Verewigten. Paul Grümmer nämlich gehört zu den herausragenden Instrumentalisten des 20. Jahrhunderts, in dessen Lebenslauf die bedeutendsten Namen der jüngeren Musikgeschichte auftauchen.

Der Aufstieg eines Ausnahmetalents

Am 26. Februar 1879 im deutschen Gera in eine Musikerfamilie hineingeboren, erhielt Paul Grümmer von seinem Vater zunächst Geigenunterricht, entschied sich mit 14 jedoch für das Cello – denn sein an der Geige sehr begabter Bruder Wilhelm stellte ihn «darin völlig in den Schatten», wie Grümmer später in seiner Publikation «Begegnungen. Aus dem Leben eines Violoncellisten» schreiben wird. Bereits ein Jahr später fand sich Grümmer am Leipziger Konservatorium im Studium bei Julius Klengel wieder. Nach seinem Studienabschluss, einer zweijährigen Professur in England und gelegentlicher Konzerttätigkeit nahm Grümmers Karriere Fahrt auf.

Er erhielt 1902 die Gelegenheit, vor King Edward VII. aufzutreten, wurde als Solocellist zu den Bayreuther Festspielen eingeladen, spielte 1905 bei den Warschauer Philharmonikern und kam noch im selben Jahr auf Empfehlung nach Wien – als Solocellist beim Wiener Konzertvereinsorchester sowie beim Orchester der Hof- und späteren Staatsoper. 1908 heiratete Grümmer in Wien die aus wohlhabendem Hause stammende Hilda Juritsch, mit der er zwei Kinder hatte – Hans Paul und Sylvia.

Fast 20 Jahre blieb Wien Grümmers Lebensmittelpunkt. Er war nebenbei Mitglied mehrerer Kleinensembles und ab 1913 Cellist beim neugegründeten, später weltbekannten Busch-Quartett. In der Biografie des namensgebenden Gründungsmitgliedes Adolf Busch ist zu lesen, dass es im Laufe der Zeit zu Spannungen innerhalb des Quartetts kam. Diese intensivierten sich, als unterschiedliche politische Ansichten aufeinander trafen. 1930 wurde Grümmer durch Hermann Busch, Bruder des Gründers, ersetzt, was ihn gemäss Memoiren seiner Tochter zutiefst gekränkt haben soll.

Wiederentdecker der Viola da Gamba

Während seiner Wiener Zeit konzertierte Paul Grümmer mit den grossen Dirigenten und Instrumentalisten von damals. Paul Hindemith, Herbert von Karajan, Arnold Schönberg werden unter anderem genannt; auch Wilhelm Furtwängler, mit dem Grümmer laut Österreichischem Musiklexikon zeitweise ein Zimmer geteilt haben soll.

Seit 1910 hatte er sich verstärkt der «Vorgängerin» des Violoncellos, der Viola da Gamba, zugewandt. Er rief mehrere Formationen mit Schwerpunkt Alte Musik ins Leben, verfasste eine «Gambenschule für Cellisten» und gilt aus heutiger Sicht als einer der führenden Wiederentdecker des barocken Instruments. Unterrichtstätigkeit führte Grümmer von Wien aus nach Deutschland, Portugal und in die Schweiz. Mit seinem Bruder Detlev führte er zudem ein eigenes Kammerorchester, mit dem er wiederholt in Deutschland und der Schweiz unterwegs war.

Wegen der Kriegswirren zog Grümmer 1944 nach Bad Aussee im steirischen Salzkammergut, wo er auf der sogenannten Eselsbachfarm lebte (heute Villa Straussengut). Hier begegnete er dem 13-jährigen Nikolaus Harnoncourt, welcher mit seiner Familie von Graz her vorübergehend an den Grundlsee übergesiedelt war. Er erteilte dem Jungen Cellounterricht, womit er den Grundstein für dessen beispiellose Karriere gelegt haben dürfte: Harnoncourt erlangte als Dirigent und Pionier der historischen Aufführungspraxis Weltruhm. Über Grümmer wird Harnoncourt später notieren: «Für mich hatte er den schönsten Cello-Ton, den ich je gehört habe.»

Nach jahrzehntelangem unermüdlichem Einsatz im Dienste der Musik ging Grümmer 1946 in Pension und verlegte seinen Wohnsitz nach Zollikon bei Zürich. Aber einfach zurücklehnen wollte er sich nicht: Er erteilte in der Schweiz weiterhin Musikunterricht und gründete 1961 im aargauischen Seengen eine Institution zur Förderung des Künstlernachwuchses.

Kriegsbombe zerstört eine Karriere

Paul Grümmer starb am 30. Oktober 1965 im Alter von 86 Jahren. Dass er in Zug bestattet ist, hat vor allem mit seiner 1911 in Wien geborenen Tochter Sylvia zu tun, welche über 60 Jahre ihres Lebens am Zugersee verbracht hat. Sylvia erbte die Musikalität ihres Vaters, lernte früh das Cellospiel und war im Alter von neun Jahren bereits Schülerin der Wiener Staatsakademie. Heimlich lernte Sylvia autodidaktisch das Gambenspiel, mit Hilfe der selbstverfassten Gambenschule ihres Vaters – um diesen eines Tages damit zu überraschen. Auch für die Tochter sollte das historische Instrument Hauptbestandteil ihrer Existenz werden: Ihr gelang eine bemerkenswerte Karriere als Sologambistin und Kammermusikerin. International gefragt spielte auch sie in bedeutenden Formationen auf ebenso bedeutenden Bühnen. Während zehn Jahren war sie Mitglied der Berliner Philharmoniker – insofern aussergewöhnlich, als solche Orchester damals noch weitgehend Männerdomänen waren.

Für Sylvia Grümmer wäre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein vielversprechender Posten vorgesehen gewesen – als Dozentin der Gambenklasse an der Wiener Hochschule für Musik. Doch es kam anders: Im Frühjahr 1945 hielt sie sich im Landhaus ihrer Urgrosseltern im Wiener Heurigendorf Grinzing auf, als das Gebäude von einer Bombe getroffen wurde. Sylvia Grümmer trug schwere Rückenverletzungen davon, welche nach dem Krieg dreimal eine vollständige Lähmung verursachten. Eine Operation in Zürich brachte deutliche Besserung, aber mit dem beruflichen Konzertieren auf der Gambe war es aufgrund motorischer Einschränkungen vorbei.

Ihr behandelnder Arzt in der Schweiz war kein Geringerer als Max Edwin Bircher, Sohn des Birchermüesli-Erfinders Max Bircher-Benner. Max Edwin führte in Oberwil bei Zug ein eigenes Sanatorium. Sylvia Grümmer übernahm 1949 dessen Leitung und liess sich folglich in Zug nieder. Über ein Vierteljahrhundert lang stand die einstige Gambenvirtuosin im Dienste Kranker. 1965 verstarb ihr Vater Paul im Bürgerspital Zug, wo er seine letzten Tage – in der Nähe seiner Tochter – verbracht hatte. Sylvias Mutter Hilda war bereits 1936 in Berlin verstorben.

Und dann noch eine Naturkatastrophe

1975 ereilte Sylvia Grümmer ein zweiter Schicksalsschlag: Nach einem schweren Unwetter löste sich am Zugerberghang eine Schlammlawine, welche das Klinikgebäude vollständig zerstörte. Ein zweites Mal stand die Grümmer-Tochter vor dem Nichts. Sie bezog daraufhin eine bescheidene Wohnung in Oberwil und erhielt bloss eine kleine AHV-Rente. Gelegentlich erteilte sie Musikunterricht oder spielte kleine Einsätze bei lokalen Konzerten.

Sylvia Grümmer starb am 9. November 2012 in Zug im hohen Alter von 101 Jahren und wurde im Familiengrab auf dem Friedhof St.Michael neben ihrem Vater bestattet. Dieses ist nun also in die Obhut der Stadt Zug übergegangen und kann folglich als ehrenhalber gewidmete Grabstätte begriffen werden, wo zwei Persönlichkeiten mit ganz besonderen Biografien ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. (Text von Andreas Faessler)