Ein Zuger Stromzähler hat die Welt erobert
Costumbres e historia, Literatura y sociedad
In seiner überraschend anschaulichen Geschichte über den Stromzähler stellt der Historiker Jonas Schädler die Apparate von Landis & Gyr in den Mittelpunkt.
Zug – «Oktober 1954, im Keller eines Mehrfamilienhauses in Zürich. Ein Kontrolleur des städtischen Elektrizitätswerks (EWZ) inspiziert den Zähler der Familie, die auf der ersten Etage wohnt. Der Zähler ist ein Fabrikat der Zuger Firma Landis & Gyr. Der Kontrolleur zerbricht die Plombe, die ein unbefugtes Öffnen des Zählers verhindern soll, und entfernt das Leichtmetallgehäuse. Dies, um den Zähler auf Verschmutzungen oder äussere Eingriffe zu prüfen. Dann setzt er im Kontrollbuch seine Initialen, verschliesst die Abdeckung und versiegelt den Zähler mit einer neuen Plombe. 50 Franken und 40 Rappen wird das EWZ der Familie für den Monat Oktober verrechnen.»
Mit dieser fiktiven Szene führt der Historiker Jonas Schädler in sein neu erschienenes Buch «Der Stromzähler» ein. Die geschilderte Kontrolle wiederholte sich seit 1900 millionenfach. Wie der 34-Jährige schreibt, trug diese Routine mit dazu bei, dass der Stromzähler heute kaum mehr für Aufsehen sorgt. So nebensächlich der Apparat auf den ersten Blick scheint, so wichtig war er laut Schädlers Einleitung für die Elektrifizierung des Haushalts zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Von Einzelanfertigungen zum Fliessband
In seiner Dissertation, aus der das vorliegende Buch hervorging, untersuchte der Zürcher sowohl die soziale als auch die technische Bedeutung des Stromzählers für die Elektrifizierung während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Die Zugerinnen und Zuger dürften sich insbesondere für die erste Hälfte des Buches interessieren, welche den Stromzählern der Firma Landis & Gyr gewidmet ist. Ein erstes Kapitel berichtet von teuren importierten Zählern aus Amerika und einem gewissen Richard Theiler, der wohl beim Besuch des 1886 eröffneten Luzerner Wasserkraftwerkes zu einer Geschäftsidee inspiriert wurde. Theiler tat sich mit einem Financier zusammen und gründete 1896 an der Hofstrasse in Zug das Electrotechnische Institut Theiler & Co., der späteren Landis & Gyr.
Detaillierte Einblicke in die Firmengeschichte verschaffte sich Schädler vor allem anhand der umfassenden Eigendokumentation, welche Landis & Gyr hinterliess. Die über 360 Laufmeter grosse Dokumenten- und Fotosammlung ist seit 2012 Teil des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich und öffentlich zugänglich.
Die Geschichte des Stromzählers stellt, so wie sie das vorliegende Buch erzählt, nicht nur ein Stück Technik-, sondern auch Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dar: Plastisch zeigt Schädler, wie sich der anfangs kleine Betrieb, der jeden Zähler per Hand fertigte, modernisierte und in den heute noch existierenden Shedhallen bei der Athene eine Arbeitsteilung vornahm und Fliessbänder installierte – nur wenige Jahre nachdem das Fliessbandsystem in den USA erfunden und bei Ford eingesetzt worden war.
Damit werden der Leserschaft am Beispiel der Landis & Gyr prototypische Entwicklungen der Industrialisierung im Kanton Zug vor Augen geführt. Schädler versteht es, diese Phänomene in einen grösseren Zusammenhang einzuordnen, wenn er etwa mögliche Inspirationen für die neuen Organisationsformen diskutiert. Eindrücklich lesen sich die Passagen über die Verflechtung des Zuger Unternehmens mit dem Rest der Schweiz und der Welt.
Der Vertrieb reichte bis nach Indien
Landis & Gyr sicherte sich beispielsweise mit dem heimlichen Zukauf einer Westschweizer Zählerfabrik die Vormachtstellung in der Schweiz, vertrieb ihre Produkte in Deutschland und profitierte – als Teil der Kolonialgeschichte – vom Absatz in Britisch-Indien.
Die zweite Hälfte von Schädlers Arbeit diskutiert die Frage nach dem Umgang der Menschen mit dem Stromzähler, namentlich wie sie sich an die Apparate gewöhnten, ihn kontrollierten, manipulierten und regulierten.
Trotz der hohen Informationsdichte wird die Leserschaft nie überfordert. Dafür sorgen einerseits die klare Gliederung und andererseits die verständliche Einführungen in die jeweiligen Kapitel. Schädler präsentiert das technische Thema anschaulich, da der breit gewählte Untersuchungsansatz spannende wirtschaftliche und soziale Phänomene im Zusammenhang mit dem Stromzähler berücksichtigt. Aus diesem Grund ist das Buch nicht nur Technikinteressierten zu empfehlen. (Text von Fabian Gubser)
Hinweis Das Buch «Der Stromzähler. Elektrische Energie als Konsumgut, 1880–1950» erschien beim Zürcher Chronos-Verlag. Es ist 240 Seiten dick, enthält 28 Bilder und kostet 38 Franken.